Die Amtsübergabe des 13. Ministerpräsidenten Israels, Naftali Bennett, an seinen Nachfolger Yair Lapid zur mitternächtlichen Stunde vom 30. Juni auf den 1. Juli in Jerusalem war gekennzeichnet von einer tiefen, emotionalen Verbundenheit aller Beteiligten zu ihrem Land „Eretz Israel“ wie es Außenstehende in einem seit 74 Jahre säkular-geführten Staat, Mitglied der OECD, der nicht ohne Stolz den Beinamen „Start-up-Nation“ trägt, wohl nicht erwartet haben. Der kippa-tragende, die 613 Ge- und Verbote der jüdischen Bibel achtende Bennett, segnete seinen Nachfolger wie es ein gläubiger Vater am Shabbat-Beginn, am Freitagabend, mit seinem Sohn vollzieht. Lapid, der durch und durch säkulare Tel Aviver enthüllt dabei, dass seine Mutter ihn 25 Minuten vorher gleichermaßen gesegnet hat. Stunden zuvor hatte sich das erst vor einem Jahr gewählte 24. Parlament in einer letzten Redeschlacht voller Verbalinjurien lautstark aufgelöst. Israel wie es leibt und lebt im Sommer 2022, voller Widersprüche und wie es rational nicht oder nur ganz schwer zu begreifen ist.
Der erste Weg des weltlich erzogenen neuen Ministerpräsidenten führte ihn zur Holocaust-Gedenkstätte „Yad Vashem“. Lapid will seinen Vater ehren, dessen Familie in Auschwitz ermordet wurde - so seine Motivation für die erste Dienstfahrt. In diesem Umfeld fielen die demütigen Worte: Die neue Aufgabe ist viel größer als es jeder Amtsinhaber je werden kann.
Merkmale einer klassischen Tragödie
Am gleichen Tag geht in der 65 Kilometer entfernten Universität von Tel Aviv die Cyber-Week zu Ende. 7.000 Gäste, 300 Redner aus 80 Ländern überschlugen sich vor Respekt und voller Bewunderung für das Weltzentrum der Internet-Sicherheit. 40 Prozent aller Cyber-Security-Investitionen weltweit – die Rede ist von 8,8 Milliarden US-Dollar jährlich - fließen in israelische Start-ups und bereits hochentwickelte Software-Firmen. Nichts gehe mehr ohne gesicherte Daten. Weder zu Hause, noch in der Wirtschaft und schon gar nicht bei militärischen Auseinandersetzungen, betonen Redner mit Expertise, darunter natürlich auch der alte und der neue Ministerpräsident. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft, seit vier Jahren im Land, schüttelt beim Kaffee ungläubig den Kopf und rätselt über das Geheimnis des Erfolgslandes Israel. Auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie – also vor gut einem Jahr – notierte Israel 25 Prozent Arbeitslosigkeit. Heute unter vier Prozent. „Wie ist das möglich?“
Bennetts Parlamentsauflösung, Zeichen seines politischen Scheiterns, hat Merkmale einer klassischen Tragödie. Denn seine Jahres-Bilanz als MP ist auch objektiv betrachtet eine Erfolgsstory. Er hat zwei Staatshaushalte mit Mehrheit über alle parlamentarischen Hürden gebracht, was seinem Vorgänger, Benjamin Netanjahu, nicht gelungen ist. Trotz 20 Terroropfern in drei Wochen im Frühjahr 2022 waren die letzten zwölf Monate die friedlichste, raketenfreie Periode seit langem.
Des einen Leid, des anderen Vorteil
Das Palästinenserproblem steht fast unerwähnt auf dem politischen Seitenstreifen, weil Bennett und Lapid den noch nicht einmal zwei Jahre jungen „Abraham Accord“ mit einigen Golfstaaten und Marokko mit jeder Menge politischem Inhalt ausgestattet haben: Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, militärische Vereinbarungen mit König Mohammed VI. in Rabat, das zweite Negev-Gipfeltreffen mit neun arabischen Nachbarn in Bahrein, darunter fünf, die inzwischen eng mit Israel kooperieren. Dazu gehört auch Saudi-Arabien, das aus Angst vor der drohenden Atommacht Iran, die Nähe zu Jerusalem sucht. Nicht zu vergessen, die aufsteigende Energiemacht Israel, die gemeinsam mit Ägypten schon bald flüssiges Erdgas (LNG) nach Europa exportieren wird. Deutschlands Kanzler und Vizekanzler, Olaf Scholz und Robert Habeck, sind in Jerusalem vorstellig geworden. Die Präsidentin der EU-Komission, Ursula von der Leyen, folgte kurz danach.
Der explodierende Gaspreis wird zusätzlich Milliarden in die Staatskasse Israels spülen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat es möglich gemacht. Des einen Leid ist nicht selten Vorteil für andere. Diejenigen, die jetzt in Berlin und Brüssel das Sagen haben, müssen ihren jahrzehntealten ideologie-getränkten Satz: keine Waffen in Kriegsgebiete auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, Waffen produzieren und mehr Menschen zur Landes-Verteidigung ausbilden. Wo kann man das am besten lernen: in Israel.
Mit Benjamin Netanjahu ist weiter zu rechnen
Auch das war Thema beim kürzlichen Besuch von Kanzler, Vizekanzler und EU-Präsidentin in Jerusalem. Die „Zeitenwende“ hat urplötzlich eine Militärkasse von 100 Milliarden Euro in Berlin und 200 Milliarden in Brüssel aufgetan. Neben den USA ist auch Israel eine bevorzugte Einkaufs-Adresse. Die Stichworte sind bereits gefallen. Israels Raketen-Abwehrprogramm „Arrow 3“ ist begehrt und hat auch schon ein Preisschild: 3,2 Milliarden Euro. Dass Israels Waffen nicht nur auf dem Papier existieren, haben die „Israel Defence Forces“ (IDF) dieser Tage wieder anschaulich bewiesen. Drei Angriffsdrohnen, in zerstörerischer Absicht unterwegs aus dem Libanon zur nördlichen Off-Shore-Gasquelle „Karish“, sind dieser Tage zielsicher vom Himmel geholt worden. Der „Werbefilm“ ist im Internet abrufbar.
Der Tragödie vorerst letzter Akt: der erfolgreiche 50jährige Bennett zieht sich aus der Politik zurück, kandidiert nicht mehr. Die „Yamina“-Parteiführung übergibt er an die attraktive, eloquente Noch-Innenministerin Ayelet Shaked. Aber alle wissen, dass Bennetts Schuhe für sie einige Nummern zu groß sind.
Damit ist Bennetts größter Widersacher, sein früherer Vorgesetzter, Benjamin Netanjahu, wieder auf dem Sprungbrett zur Macht. Wie egomanisch er gestrickt ist, zeigte sich bereits am ersten Arbeitstag des neuen MP. Netanjahu gratulierte ihm telefonisch und wünschte ihm eine friedvolle, viermonatige Amtszeit bis zum Wahltag am 1. November. Gleichzeitig weigerte sich Netanjahu, das ihm als Oppositionsführer gesetzlich zustehende Informationstreffen zur Sicherheitslage mit dem MP persönlich durchzuführen. Stattdessen wird ihm der zuständige Sicherheitsberater regelmäßig Bericht erstatten. Hintergrund: Zu einem gemeinsamen Foto mit früher Bennett und jetzt Lapid als Zuhörer in seinem ehemaligen Büro kann er sich nicht durchringen, will er seinen Wählern nicht zumuten.
Dennoch, man muss mit dem am Wahltag 73-Jährigen wieder rechnen. Allen Umfragen zufolge wird er mit seiner Likud-Partei wieder stärkste Kraft. Dass der Staatsanwalt wegen Korruption hinter ihm her ist, stört seine Klientel, die einen starken Mann an der Spitze will, offenbar nicht. Ob es ihm ab dem 2. November gelingt, mindestens 61 der 120 Abgeordneten für eine vierjährige Amtsperiode hinter sich zu vereinigen, werden seine Konkurrenten, Lapid, Noch-Verteidigungsminister Gantz, Noch-Finanzminister Liebermann rund um die Uhr beobachten. Nicht wenige von ihnen wollen ihn zielstrebig verhindern.
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