Mariupol

In der Hölle von Mariupol

Die ukrainische Stadt Mariupol ist zum Synonym für die Brutalität des russischen Angriffskrieges geworden. Kateryna Sukhomlynova hat als Sanitäterin den Krieg dort erlebt und berichtet vom Schicksal ihrer Stadt.
Ukraine-Krieg - Mariupol
Foto: - (AP) | Stadt unter Dauerbeschuss: Rauch steigt über dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf.

Fürchterliches hat sie gesehen und durchgemacht. 21 Tage harrte die Ukrainerin Kateryna Sukhomlynova in Mariupol aus, bevor sie sich zur Flucht entschied. Jetzt berichtete die Sanitäterin, die in der Hafenstadt am Asowschen Meer für die Malteser arbeitete und Stadtratsmitglied war, über das Erlebte im polnischen Pilecki-Institut in Berlin. Die Stadt, die zuvor 500.000 Einwohner zählte, ist inzwischen nahezu völlig zerstört. Nur noch etwa 100.000 Menschen sollen dort in den Trümmern leben.

Sukhomlynova schilderte das Leben unter dem Bombardement und Dauerbeschuss der Russen: „Familien versteckten sich in Kellern mit ihren Haustieren. Alte Menschen konnten nicht mehr aus ihren Wohnungen, um Wasser aus einem Brunnen zu holen, weil ein russischer Soldat aus einem Nachbarhaus auf sie schoss. Die Leichen von Männern, Frauen und Kindern lagen auf den Straßen. Wir konnten sie nicht einmal begraben“.

Überall riecht es nach Schweiß, Blut und Urin

Sie beschreibt die Enge in den Kellern und Räumen, in denen Schutz gesucht wurde: „Wenn du auf keine Toilette mehr gehen kannst, dein Geschäft in eine Tüte verrichten musst und auch nicht weißt, wo du die dann entsorgen kannst. Überall riecht es nach Schweiß, Blut und Urin. Nach Leichen, Rauch und Feuer, nach geschmolzener Plastik.“ Alte Menschen hätten ihre Wohnungen nicht mehr verlassen können und seien verbrannt. „Wie soll ich die Leichen beschreiben, die ich gesehen habe. Die zerschossenen Gesichter, auch von Kindern. Die Wunden, die Knochen. Jeden Tag starben unzählige Menschen.“ Kaum hätten die Russen einmal grünes Licht für einen humanitären Korridor gegeben, hätten sie auch schon wieder geschossen.

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Während der 21 Tage, die sie nach Kriegsbeginn noch in Mariupol war, habe sie versucht als Sanitäterin den Menschen zu helfen. „Der Krieg dauerte in der Ukraine ja schon acht Jahre. Aber jetzt zeigte sich, dass wir nicht hundertprozentig auf diesen grausamen totalen Krieg vorbereitet waren“, sagte sie. Über 500 verwundete ukrainische Soldaten lägen in Krankenhäusern in Mariupol. Doch es fehlten Medikamente. Ohne diese würden viele sterben. „Die Russen verübten Morde, Erschießungen, Vergewaltigungen. Und die Spuren werden überall verwischt“, so Sukhomlynova. Immer wieder sei bewusst auch die Zivilbevölkerung angegriffen worden. „Mariupol“, erklärte sie, „ist wie hunderte Butschas“ - die Stadt in der Nähe Kiews, in der russische Soldaten viele Morde verübt hatten.

Viele Einwohner wurden zwangsdeportiert

Sie bejahte die Frage dieser Zeitung, ob sie auch Tschetschenen unter den Soldaten gesehen habe. Tschetschenen seien Kontrollposten gewesen. „Manchmal hörte man sie laut ,Allahu akbar' rufen. Da stockte einem der Atem.“ Viele Einwohner Mariupol seien zwangsweise nach Russland deportiert worden. In „Filtrationslagern“ würden die Menschen aussortiert und zu Aussagen gezwungen. Kontrollposten würden Handys und Videoaufnahmen untersuchen. „Ich hatte zur Sicherheit Fotos und Daten auf meinem Handy gelöscht“.

Die russischen Soldaten hätten gewusst, „wen sie als Erste erschießen müssten“, insbesondere politisch und öffentlich tätige Personen. „Da ich zu dieser Gruppe zählte, musste ich die Stadt heimlich verlassen. Dabei mieden wir mit dem Auto große Städte und fuhren über Feldwege durch kleine Dörfer. Nach zwanzig Tagen konnten wir uns endlich waschen. Unseren drei Mädchen hatte ich allerdings nicht erlaubt, sich die Haare und das Gesicht zu waschen, damit sie nicht für russische Soldaten attraktiv aussehen könnten.“

„Es kann auch euch treffen“

Kateryna Sukhomlynova betont: „Wir kämpfen heute nicht nur für uns, sondern für alle Europäer. Es kann auch euch treffen. Auch wir saßen auf der Terrasse, tranken Cappuccino und dachten nicht an Krieg. Ich bitte euch: Seid nicht naiv!“  Die Ukraine brauche Hilfe, auch Waffen: „Jeden Tag fliegen Raketen auf uns.“ Die ukrainischen Soldaten kämpften und verteidigten ihr Land. „Wir brauchen auch den Schutz des Himmels,“ fügte die Malteser-Mitarbeiterin hinzu. Und: „Sehr viele haben alles verloren. Aber unseren Mut haben wir noch nicht verloren. Wir wollen unsere schöne Stadt Mariupol wieder aufbauen.“

 

Das polnische Pilecki-Institut am Pariser Platz in der Nähe des Brandenburger Tores engagiert sich auch vielfältig für geflüchtete Ukrainer und Belarussen. Es ist nach Witold Pilecki benannt, dem tiefgläubigen katholischen Offizier, der sich 1940 freiwillig nach Auschwitz begab, um dort eine Widerstandsorganisation aufzubauen.1943 gelang ihm wieder die Flucht und er nahm am Warschauer Aufstand teil. Nach dem Krieg sammelte er Beweise über sowjetische Gräueltaten und wurde von den polnischen Kommunisten 1948 nach Folter und einem Schauprozess zum Tode verurteilt.
Sein Andenken pflegt das Pilecki-Institut ebenso wie das des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der 1947 für die UNO einen Gesetzentwurf über die Bestrafung von Völkermord ausgearbeitet hatte. Gemeinsam mit dem Raphael-Lemkin-Insitut in Warschau organisiert das Pilecki-Institut jetzt etwa auch die systematische Befragungen von Flüchtlingen über (Kriegs-)Verbrechen von russischen Truppen in der Ukraine.

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