Die Ukraine galt traditionell als ein extrem heterogenes Land mit einem starken West-Ost-Gefälle. Jetzt aber präsentiert sie sich im Widerstand gegen Wladimir Putins Aggression erstaunlich einig und geschlossen. Wie ist das zu erklären?
Was die Kultur und die Religion betrifft, ist die Ukraine tatsächlich extrem vielfältig. Doch bestimmte Entwicklungen der zurückliegenden 30 Jahre haben dazu beigetragen, dass sich die ukrainische Identität gewandelt hat. Die Ukraine stand geschichtlich unter dem Einfluss unterschiedlicher Staaten und Mächte. Diese unterschiedliche Prägung war 1991 gut sichtbar, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangte. In der Politik gab es damals sehr verschiedene Auffassungen darüber, ob sich die Ukraine eher nach Westen oder nach Osten orientieren sollte. 2004 änderte sich die Lage: In der "Orangen Revolution" haben die Ukrainer erstmals gezeigt, dass eine erstarkte Zivilgesellschaft Veränderungen will. Von hier führt eine Linie zum "Maidan" des Jahres 2013/14: Hier waren Ukrainisch- und Russischsprachige erstmals vereinigt in der Idee einer pro-europäischen Ausrichtung der Ukraine.
War dieser Aufbruch von 2013/14 bereits eine Reaktion auf Russland und dessen innere Entwicklung zur Autokratie?
Der Maidan 2013/14 war nicht gegen Russland gerichtet, sondern gegen eine engere Anbindung an Russland, wie sie der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch anstrebte. Das wurde als Enttäuschung und Rückwärtsentwicklung empfunden. Die jüngere Generation sehnte sich jedoch nach einer Hinwendung zu Europa und fühlte keinerlei Sowjetnostalgie. Vor der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde Russland nicht als Feind, sondern als Nachbar wahrgenommen. Die Jüngeren wollten aber mehr mit Europa als mit Russland zu tun haben. Ab der Annexion der Krim wurde Russland als Aggressor gesehen. Und mit der Invasion im Februar 2022 hat Putin dazu beigetragen, dass die Ukrainer in Ost und West ihre Identität als ganz eigen und anders wahrgenommen haben. Identität hat immer auch mit Abgrenzung zu tun: Seit einem Jahr nun wird die ukrainische Identität und Geschichte klar abgegrenzt zur russischen Identität und Geschichte.
"Mit der Invasion im Februar 2022 hat Putin dazu beigetragen, dass die Ukrainer in Ost und West ihre Identität als ganz eigen und anders wahrgenommen haben."
Durfte Putin vor einem Jahr nicht annehmen, dass orthodoxe Russischsprachige im Osten der Ukraine eine gewisse Sympathie für ihn und den Anschluss an Russland hegen könnten, während sich im Westen ukrainischsprachige Katholiken seit jeher stark nach Westen orientierten?
Putins Umgebung hat mit diesem einfachen Muster gearbeitet. Sie wollten glauben, dass überall dort, wo Russisch gesprochen wird, auch Sympathie für Russland und seinen Präsidenten herrsche. So wurde das Putin vorgetragen, und so lief auch die russische Propaganda. Man wollte nicht zur Kenntnis nehmen, dass die ukrainische Gesellschaft längst grundlegend anders tickt, weil sie sich in den zurückliegenden Jahren anders entwickelt hatte. Das war ein entscheidender Fehler.
Gehörten in der Ostukraine nicht auch Russifizierung und Abhängigkeit von Moskau zur Identität vieler Ukrainer?
Tatsächlich ist heute die ukrainische Sprache stark im Trend. Viele, die früher Russisch sprachen, verwenden jetzt auch zuhause und im Alltag das Ukrainische. Klar ist aber auch: Wenn jemand Russisch spricht, heißt das noch gar nicht, dass er pro-russisch denkt. Die russischsprachigen Ukrainer identifizieren sich weithin ganz und gar als Ukrainer, selbst wenn sie im Alltag weiter Russisch sprechen. Über die Sprachverschiedenheit hinweg sind die Ukrainer durch ein gemeinsames Ziel vereint.
"Wenn jemand Russisch spricht, heißt das noch gar nicht, dass er pro-russisch denkt. Die russischsprachigen Ukrainer identifizieren sich weithin ganz und gar als Ukrainer"
Hat der Krieg das Geschichtsbild und das Identitätsgefühl der Ukrainer verändert?
Ja, viele fragen sich jetzt: Wie können die Russen als Träger einer so großen Kultur so schreckliche Verbrechen begehen? Ich denke, nach diesem Krieg wird sich vieles ändern. Die junge Generation wird nach dem Krieg wohl überall im Land mit größter Selbstverständlichkeit die ukrainische Sprache verwenden. Sogar Präsident Selenskyj musste Ukrainisch erst lernen - aber jetzt wird es immer besser. Das ukrainische historische Narrativ, das die ukrainische Geschichte von der russischen unterscheidet, findet heute breite Zustimmung. Das ist - so makaber es klingt - auch Wladimir Putin zu verdanken, der ja den Ukrainern eine eigene Identität abgesprochen hat.
Ging es bei der beschriebenen Abwendung von Russland und der gleichzeitigen Hinwendung zu Europa vor allem um ein Lebensmodell - also um Rechtsstaatlichkeit statt Tyrannei, Freiheit statt Diktatur - oder um die historische und kulturelle Identität?
Das hängt zusammen. Der Schock, den die russische Aggression ausgelöst hat, führte die meisten Ukrainer zur Einsicht, dass unser Land mit einem solchen Regime und System nichts zu tun haben sollte. Klar wurde auch, dass die Ukraine nicht in der Luft hängen kann, in einem luftleeren Raum zwischen der EU und Russland. Darum ist für die allermeisten Ukrainer die europäische Perspektive der einzige denkbare Weg. Diese Zukunftsperspektive fördert ihrerseits einen neuen Blick auf die Geschichte wie auf die eigene Nation. Weil wir uns der EU zuwenden, suchen wir nach Anknüpfungspunkten und Berührungen. Dabei stellen wir fest, dass die ukrainische Geschichte mit Europa immer schon tief verbunden war. Kiew war stets ein Knotenpunkt zwischen Ost und West. Auch entstand unsere unierte Kirche aus der Auseinandersetzung mit den klassischen abendländischen Entwicklungen: dem Katholizismus, der Reformation und der Gegenreformation. In Moskau gab es diese Konfrontation mit dem Westen erst, als Russland ukrainische Gebiete erobert hatte und Kiewer Gelehrte nach Moskau kamen.
"Kiew war stets ein Knotenpunkt zwischen Ost und West."
Vielfalt als Bereicherung zu empfinden, nicht als Zeichen von Schwäche, wäre etwas typisch Europäisches.
Genau. In Russland jedoch werden die westlichen Einflüsse als negativer Eingriff und Entfremdung verstanden, während man in der Ukraine positiv vom Dialog spricht. Die Russen wollen die Geschichte als eine gerade Linie sehen. Was immer diese Linie stört, gilt als Aggression und Zerstörung.

Sind die einstigen interkonfessionellen Spannungen in der Ukraine durch den Krieg verschwunden oder nur überlagert?
Es gibt zwischen den Konfessionen tatsächlich eine breite Übereinstimmung in politischen Fragen: Was die Ukraine ist und wie sie sich entwickeln soll, darin gibt es viel Einigkeit. Die anderen Fragestellungen sind dadurch nicht gelöst, auch wenn sie derzeit nicht im Vordergrund stehen. Die aktuellste Frage ist jene nach dem Status der "Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats" (UOK-MP). Sie hat zwar ihre Unabhängigkeit erklärt, aber keine Autokephalie erhalten. Das Moskauer Patriarchat betrachtet diese Kirche nach wie vor als zu ihm gehörig. Trotz dieser Unklarheiten sollte der Staat hier nicht eingreifen. Natürlich wird jetzt die "Orthodoxe Kirche der Ukraine" (OKU) unter Metropolit Epifanij politisch favorisiert, aber ich möchte in der Ukraine keine Staatskirche wie in Russland sehen. Der Staat sollte in seinem Vorgehen gegen die UOK-MP differenzieren: zwischen jenen, die tatsächlich kollaboriert haben, und der ganzen Gemeinschaft. Staatliche Verbote verstärken nur die Spannungen.
"Der Staat sollte in seinem Vorgehen gegen die 'Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats' differenzieren: zwischen jenen, die tatsächlich kollaboriert haben, und der ganzen Gemeinschaft."
Verändert der Krieg den Blick der Ukrainer auf die Kirchen?
Das Vertrauen in die Kirchen ist stark gesunken, während das Vertrauen in das Militär gewachsen ist. Laut aktuellsten Umfragen vertrauen noch 44 Prozent der Befragten den Kirchen. Leider wird in diesen Umfragen nicht zwischen den verschiedenen Konfessionen differenziert. Früher lag das Vertrauen in die Kirchen weit über 60 Prozent. Das ist ein Warnsignal für die Kirchen. Die ukrainische Gesellschaft verändert sich sehr stark, und die Kirchen spüren diese Veränderung. Sie genießen keinen Vertrauensvorschuss mehr, sondern müssen es sich verdienen.
Heute betrachten die Ukrainer die Russen als Feinde und Aggressoren. Werden sie sie übermorgen - nach dem Ende des Krieges - als feindliche Nachbarn, als enge Verwandte oder gar als Brüder sehen?
Das hängt davon ab, wie dieser Krieg endet und welche Konsequenzen gezogen werden. Ein "mea culpa" Russlands könnte zu einer guten Nachbarschaft beitragen. Aber wenn Russland seine Vorgehensweise nicht öffentlich bereut, wenn keine Wiedergutmachung versucht wird und Russland sich nach diesem auf einen neuerlichen Krieg vorbereitet, dann wird es schwierig. Heute sind die Beziehungen völlig vergiftet. Man kann nur spekulieren, wann und wie es zu einer Besserung kommen könnte.
Historisch war auch das Verhältnis zwischen Ukrainern und Polen belastet. Das hat sich durch die großzügige Aufnahme und Hilfsbereitschaft nun offenbar gewandelt.
Ja! Die Offenheit, Hilfe und Solidarität der Polen - des Staates wie der Menschen - war eine große Überraschung. Es gab historisch so viele offene Fragen, doch nun treten die Gemeinsamkeiten und das Verbindende in den Vordergrund. Die Ukrainer sehen überdies, dass es für sie alleine keine Sicherheit gibt. Sicherheitsgarantien gibt es nur im Verbund mit anderen.
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