Von der Weimarer Republik bis zum Ukraine-Krieg: Buchstäblich ein ganzes Jahrhundert lang betrachtet der frühere US-Außenminister und Nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger nun bereits das Weltgeschehen. Und am Samstag, dem 27. Mai, begeht Kissinger seinen 100. Geburtstag.
Geboren im politischen Krisenjahr 1923 als Heinz Alfred Kissinger im mittelfränkischen Fürth, schien es dem Sohn jüdischer Eltern bereits von Kindesbeinen an in die Wiege gelegt gewesen zu sein, auf Machtpolitik sowie die Auswirkungen politischer Entscheidungen nicht nur zu reagieren, sondern auf diese auch maßgeblich Einfluss nehmen zu wollen. 1938 emigrierte Kissinger im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten via London in die USA und verbrachte die ersten Jahre in seiner neuen Heimat in Manhattan – und kämpfte ab 1944 als US-Soldat unter anderem in den Ardennen gegen Hitler-Deutschland.
"Mr. Realpolitik" wird 100
Nach dem Krieg begann Kissinger in Havard Politikwissenschaft zu studieren und entwickelte eine starke Zuneigung für Staatsmänner und Philosophen wie Otto von Bismarck, Klemens Wenzel Fürst von Metternich, dem Viscount Castlereagh, Immanuel Kant und Oswald Spengler, denen er sein zwar nicht unidealistisches, jedoch betont nüchtern-realistisches Bild der Internationalen Beziehungen verdankt. Von 1954 bis 1971 war er Mitglied des Lehrkörpers von Havard – und mit der Wahl von Richard Nixon zum US-Präsidenten 1968 wurde Kissinger erstmals offizieller Berater eines US-Präsidenten für Außen- und Sicherheitspolitik.
Als Nationaler Sicherheitsberater bis 1975 sowie von 1973 bis 1977 zusätzlich als US–Außenminister traf Kissinger gemeinsam mit den US-Präsidenten Nixon und Gerald Ford Entscheidungen, die sowohl das Ende des Vietnamkriegs einläuteten (wofür er 1973 den Friedensnobelpreis erhielt), den späteren Aufstieg Chinas ermöglichten sowie sowie zur Entspannung im Kalten Krieg führten.
Dennoch kritisieren politische Beobachter Kissinger wegen dessen Rolle beim Putsch in Chile am 11. September 1973, der Unterstützung der USA für Militärregime und Putsche vor allem in Lateinamerika und die verborgen gehaltene Bombardierung des neutralen Kambodschas in der Endphase des Vietnamkriegs. Auch angesichts des Ukraine-Kriegs wurden Aussagen Kissingers kritisiert: Denn im Mai 2022 plädierte dieser für eine diplomatische Einigung, die den Status quo ante bellum wiederherstellen sollte, was die Krim und die besetzten Gebiete der Ukraine effektiv unter russische Kontrolle geben würde. Nach scharfer Kritik präzisierte Kissinger im Januar seine Aussagen und fordert neben einer klaren Abwehr des russischen Agressors seitdem nachdrücklich, die Ukraine in die NATO aufzunehmen - eine Maßnahme, die sowohl dem Westen als auch Putin vorteilhaft erscheinen müsste, wie der Jubilar kürzlich der Wochenzeitung "Die Zeit" mitteilte. Denn in Europa sei, so Kissinger, die Zeit "neutraler Zonen" vorbei.
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