Als das Jahr 2021 zu Ende ging, hatte sich die leise Hoffnung eingeschlichen, dass vielleicht bald alles besser werden wird. Die Medien diskutierten noch, ob es nicht verantwortungsvoller sei, ein Böllerverbot auszusprechen. In den sozialen Netzwerken kündigten Meinungsführer an, freiwillig auf derlei Schabernack zu verzichten, ungeachtet ob es ein Verbot geben würde oder nicht. Nicht nur wegen der Umwelt, wegen des Feinstaubs, wegen des Krachs, der vor allem die Tiere in den Wahnsinn treibe, sondern auch, weil „Corona noch lange nicht vorüber“ sei.
Appelle an die „Solidarität“ wurden überstrapaziert
Wie so oft spiegelte die digitale Wirklichkeit nicht einmal annähernd die tatsächliche Realität wieder. Die meisten Menschen hatten genug von den Untergangsprophezeiungen. Auch die Appelle an die „Solidarität“ der Menschen hatten mittlerweile einen Grad an Überstrapazierung erreicht, sodass sie ihre Wirkung verfehlten.
Können Sie sich daran erinnern, als nicht nur das Land, sondern auch ganze Familien, Freundschaften und Beziehungen an der Frage zu zerbrechen schienen, ob Sie geimpft sind oder nicht? Ich hatte beides erlebt: Freunde, die sich im November 2020 nach meiner Corona-Erkrankung von mir abwandten mit dem Hinweis, ich sei wohl zu „unverantwortlich“ gewesen, wie auch Freunde, die auf Distanz gingen, weil ich mich später feige „freigeimpft“ hätte.
Hoffnung keimte auf
Dann kam die Hoffnung auf ein neues Jahr. Nach den zwei Jahren des sozialen Corona-Winters schien in der Silvesternacht von 2021 mit den ersten Leuchtfeuern zerberstender Silvesterraketen auch der pechschwarze Himmel etwas aufzureißen und hoffnungsfrohe Sonnenstrahlen der Zuversicht auf unsere Erde hinabzulassen.
Natürlich gab es sie weiterhin auch im neuen Jahr, jene Menschen, für die man im anglo-amerikanischen Raum die Sportart des „Virtue Signalling“ erfunden hat, die auch dann noch ihren Freundeskreis in die Menschengruppen „geimpft“ und „ungeimpft“ unterteilten und auch dann noch eine Maske trugen, als es gesetzlich nicht mehr vorgeschrieben war. Die Impfung ist für viele Menschen mit einem Ringen und Abwägen verbunden gewesen hinsichtlich der möglichen Nebenwirkungen einerseits, der eigenen Berufschancen und Reisemöglichkeiten andererseits.
Ukrainekrieg löste Coronastrapazen ab
Für andere war die Impfung dagegen eine Befreiung, ein erstes Anzeichen für das Ende der Pandemie, ein Rettungsseil aus dem Strudel der Angst. Für wieder andere wurde die Spritze, die doch lediglich dem Selbstschutz dienen sollte, zu einem Statussymbol und dem persönlichen TÜV-Siegel, dass man die „richtige Haltung“ zeige, „gerade in Zeiten wie diesen“, wie oft pathetisch ergänzt wurde. Das Oxymoron „Social Distancing“ wurde zur heroischen Heldentat, die Maske zur wehenden Fahne des haltungsbewussten Bürgers.
Und dann? Das neue Jahr war noch nicht einmal zwei Monate alt, als Putin die Ukraine überfiel. Die Masken verschwanden zunehmend aus den Profilbildern der Facebook-Nutzer und wurden abgelöst von Ukraine-Flaggen. In den sozialen Netzwerken brach ein neuer Krieg aus, der neue Helden brauchte.
Haltung statt Handlung?
Mittlerweile geht auch das Jahr 2022 zu Ende und der Krieg tobt noch immer. Mitgefühl und Solidarität haben ihre Halbwertszeit bereits überschritten, zu schnell gewöhnt sich der Mensch an blutende Kinder in den Abendnachrichten. Sind wir Menschen so herzlos, dass es erst wieder neue Katastrophen braucht, um uns von unserer besten Seite zu zeigen, bevor uns wieder langweilig wird?
Warum ist Haltung für viele so viel wichtiger als Handlung? Aber nicht nur das „Virtue Signalling“ scheint unausrottbar zu sein, sondern auch eine zweite menschliche Haltung: Die Hoffnung. Möge diese uns auch im neuen Jahr erhalten bleiben.
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