Bis weit in die Neuzeit hinein war „Deutsch“ keine politische Kategorie, sondern lediglich die am weitesten verbreitete Muttersprache des übernationalenHeiligen Römischen Reiches. Der kulturelle Graben verlief weder im alten Reich noch im Deutschen Bund oder der Habsburgermonarchie zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, sondern seit dem Dreißigjährigen Krieg eher zwischen den Konfessionen. Im von zahlreichen Dynastien, die katholischen, lutherischen oder reformierten Glaubens waren, geprägten deutschen Sprachraum entwickelte sich das Verhältnis zu Russland recht unterschiedlich. Zwischen evangelischen Herrscherhäusern wie dem württembergischen, dem badischen, dem von Hessen-Darmstadt, von Preußen, Oldenburg, Mecklenburg oder auch dem kleinen Anhalt-Zerbst und der russischen Zarenfamilie wurden jahrhundertelang enge Heiratsverbindungen geknüpft.
Kulturelle, wirtschaftliche und politische Gemeinsamkeiten wirken sich bis heute aus
Die so entstandenen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gemeinsamkeiten wirken sich bis heute aus. Katholische Dynastien wie die Habsburger in Wien oder die Wittelsbacher in München blickten hingegen bei den Eheanbahnungen und darüber hinaus eher nach Frankreich, Italien und Spanien.
Hinzu kamen speziell in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau historische Ereignisse von starker geistiger Bindekraft, wie etwa die preußisch-russische Konvention von Tauroggen 1812; der Vertrag von Rapallo 1922, mit dem Sowjetrussland auf geschickte Weise die Isolierung der Weimarer Republik durch die Westmächte durchbrach und sich damit die Dankbarkeit breiter deutscher Bevölkerungskreise sicherte; die geheime Aufrüstung der deutschen Reichswehr durch Moskauer Unterstützung in den Jahren danach sowie schließlich im Sommer 1939 der Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion. An Letzteren fühlen sich unsere östlichen Nachbarn, insbesondere Balten und Polen, heute noch jedes Mal dann erinnert, wenn Berlin und Moskau hinter ihrem Rücken Sonderbeziehungen pflegen, ohne auf die Interessen und Befindlichkeiten dieser europäischen Partner zu achten.
Wie Russland Vertrauen für sich ausnutzt
Dies war insbesondere unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders der Fall, droht aber auch heute wieder. Etliche Deutsche, insbesondere auf dem Gebiet der früheren DDR, wo die Sowjetunion und das SED-Regime entsprechende Propaganda betrieben, sehen nach wie vor in einem idealisierten Russland den bevorzugten Partner. Dies macht sich Putin systematisch zunutze. Das beste Beispiel dafür war 2001 die bis heute von manchem gerühmte Rede im deutschen Bundestag, die versöhnlich und vertrauenerweckend klingen sollte, aber nichts anderes war als der raffinierte Versuch, Deutschland aus der Solidarität mit seinen anderen europäischen Partnern, insbesondere mit Frankreich, Polen und der Ukraine, herauszuloben.
Dieser politischen Linie dienten auch die Pipeline-Projekte Nord Stream 1 und Nord Stream 2, deren Zweck letztlich war, Deutschland eng an Russland zu binden und die Staaten dazwischen zu umgehen. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch die Langzeitwirkung der Romantik auf das deutsche politische Denken von heute. Der russische Zar Alexander I. versuchte im Gefolge des Wiener Kongresses von 1815, mit der sogenannten Heiligen Allianz zwischen seinem absolutistisch regierten Reich, Preußen und Österreich eine anti-westliche Kraft zu formen, in die er auch die konservativ-katholische Welt integrieren wollte.
Die Sache mit der heutigen Russland-Romantik
Der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich fand diese ideologische Verformung seiner nüchternen, auf Stabilität ausgerichteten Realpolitik zwar eher befremdlich, aber andere Denker im konservativen Lager, wie Joseph de Maistre, ein katholischer Savoyarde, der den Großteil der napoleonischen Ära als Botschafter seines Königs in Sankt Petersburg verbracht hatte, griffen die Impulse aus dem Osten begeistert auf. De Maistre träumte von einem eng mit Russland verbundenen Europa unter der Vorherrschaft des Papstes.
Auch dieses Gedankengut lebt in unseren Tagen auf, wenn ausgerechnet der ehemalige KGB-Mann und heutige Kriegsverbrecher Wladimir Putin sich als Hüter christlicher Werte geriert. Ein Beispiel für die aus diesen und zahlreichen anderen Quellen strömende Russland-Romantik von heute war nach der Annexion der Krim durch Putin eine Fernsehdiskussion zwischen deutschen Journalisten. Einer von ihnen versuchte die aggressive Politik Moskaus gegenüber der Ukraine mit einer angeblichen Bedrohung Russlands durch den Westen zu rechtfertigen. Unter Hinweis auf die zweifellos großartige russische Musik und Literatur bemühte er in diesem Zusammenhang auch die „russische Seele“. Da entfuhr seinem Diskussionspartner, dem erfahrenen Korrespondenten einer wichtigen süddeutschen Zeitung, der spontane Ausruf: „Haben Ukrainer keine Seele?“
Das Profil der Ukrainer ist für viele verschwommen
Damit wurde das ganze Dilemma deutlich, mit dem die Ukrainer zu kämpfen haben. Ihr kulturelles, historisches und politisches Profil ist für viele Deutsche und andere Europäer recht verschwommen, weil sie Jahrhunderte der Unterdrückung hinter sich haben. Diejenigen von ihnen, die im Zarenreich lebten, wurden konsequent gleichgeschaltet und russifiziert. Der kleinere Teil, der zur Habsburgermonarchie gehörte, genoss zwar mehr kulturelle Rechte, aber die polnische Oberschicht Galiziens versuchte oftmals den Eindruck zu erwecken, die Ukrainer seien „nur schlichte Bauern“.
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges verhalfen Wien und Berlin den Ukrainern für kurze Zeit zu einer eigenen Staatlichkeit, die von Josef Stalin aber bereits kurz danach wieder zerstört wurde – zu bald, um im deutschen Sprachraum als eigener Faktor „ukrainisches Volk“ wirklich Wurzeln zu schlagen.
Ukraine - kein europäisches Volk?
Noch Anfang dieses Jahrhunderts nutzten die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands, die mangelnden Kenntnisse vieler Westeuropäer über die Ukraine, um diese auf eine skandalöse Weise aus EU und NATO herauszuhalten. Gegen unsere Proteste aus dem Europaparlament ließ der Rat damals ein Gutachten verfertigen, wonach die Ukrainer kein europäisches Volk seien. Gleichzeitig sprach man sich für den türkischen EU-Beitritt aus. Diese Fehlhaltung führte unter anderem dazu, dass nach der Annexion der Krim nicht angemessen und energisch genug reagiert wurde.
Ohne diese Ignoranz und Gleichgültigkeit auch in der veröffentlichten Meinung Deutschlands und Europas wäre es nie zum jetzigen Überfall auf die Ukraine, ein zutiefst europäisches Land, gekommen.
Die Putin'sche Propaganda von heute verschärft gezielt solche Fehlhaltungen: Die Ukrainer seien kein eigenständiges Volk, hätten kein Existenzrecht, und ihr Staat sei nur das Produkt irgendwelcher von der NATO eingesetzter „Nazis“ in Kiew.
Die polarisierende Wirkung der Medien
Eine polarisierende Wirkung hat in Deutschland auch das in täglichen Fernsehbildern sichtbare Leid der Ukrainer. Bei den meisten befördert es die Bereitschaft, Kiew humanitär, politisch und auch mit Waffen zu unterstützen. Bei den anderen schürt die Brutalität Putin'scher Truppen eher die Angst und den Wunsch, die Ukrainer mögen aufgeben, um unsere Freiheit und unseren Wohlstand nicht zu gefährden.
Dies ist eine neue Variante der alten und irreführenden Parole „Lieber rot als tot“. Der gegen Europa insgesamt und nicht nur gegen die Ukraine gerichtete Putin'sche Feldzug wird vor allem auch auf dem Gebiet der Propaganda geschlagen.
Der Autor, von 1994 bis 2014 CSU-Eurpaabgeordneter, ist Präsident der Paneuropa-Union Deutschland. Er ist einer von 89 Europäern, über die Wladimir Putin 2015 wegen der Kritik an seinem Regime ein Einreiseverbot nach Russland verhängte.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.