Den meisten Europäern wird die schiitische Achse zwischen Teheran, Bagdad, Damaskus und Beirut, allgemein als „Schiitischer Halbmond“ bezeichnet, kaum ein Begriff sein. Spätestens seit der Eliminierung eines hochrangigen Generals der iranischen Revolutionsgarden durch eine US-amerikanische Drohne, sollte dieser zumindest all jenen, die sich mit Außenpolitik an den Grenzen Europas beschäftigen, bekannt sein. Ohne die historischen Ereignisse zwischen „Schiiten“ und „Sunniten“ zu kennen, die Ausgangspunkt für die Unterstützung des schiitischen Irans in Syrien, dem Libanon, Jemen, Pakistan und vielen anderen Orten in Asien und dem Nahen Osten sind, wird man die Zusammenhänge mit dem aktuellen Konflikt, welcher auch Europa und die Weltwirtschaft bedroht, nicht verstehen können.
Historische Verfolgung der schiitischen Glaubensgemeinschaft
Am zehnten Muharram im Jahr 61 der Hidschra, 61 Jahre nach dem Auszug Mohammeds aus Mekka (680 n. Chr.), ereignete sich im irakischen Kerbala, einem der heiligsten Orte der schiitischen Glaubensgemeinschaft, ein Ereignis, welches letztendlich bis heute die Welt erschüttert und das zunächst eine Jahrhunderte andauernde Unterdrückung der Schiiten durch den sunnitischen Islam zur Folge hatte. Der Prophetenenkel Hussein, der erbittert um die Führerschaft der Muslime kämpfte, unterlag an diesem Tag der Armee des sunnitischen Umayyadenkalifen Yazid Ibn Muawiya. Laut verschiedener Quellen betrug das Kräfteverhältnis 10.000 zu 72 zu Ungunsten Husseins. Der Prophetenenkel und seine Gefährten wurden vernichtend geschlagen. Damit einhergehend setzte eine historische Verfolgung der schiitischen Glaubensgemeinschaft mit ihren Unterkategorien, zu denen auch Alawiten und Aleviten gehören, unterschiedlichen Ausmaßes ein, welche erst 1979 mit der iranisch – muslimischen Revolution ein historisches Ende fand.
Die iranische Revolution löste den Panarabismus sozialistischer Prägung ab und gab der islamischen Bewegung eine politische Agenda, die bis heute anhält und viele islamistische Bewegungen am Leben erhält. Doch noch wichtiger war der Gewinn an Selbstbewusstsein, hervorgerufen durch das neue Machtbewusstsein der Schiiten; auch als Religion, die ethnische Barrieren überwunden hat und damit einhergehend die Überwindung der Schmach von Kerbala 680 n. Chr. und die Erlösung vom Traumata der Verfolgung, im Besonderen durch sunnitisch – wahabitische Hardliner, die ihren Ursprung in Saudi Arabien haben. Um nie wieder als „Verfolgte“ und „Abgefallene vom Islam“ (nach Ansicht der Wahabiten) wahrgenommen zu werden, sollte die Idee von 1979, nach der iranischen Revolution, einen Keil in die sunnitische Welt bis zum Mittelmeer treiben - was in den folgenden Jahren zur Realität wurde.
Asymmetrischer Konflikt vor den Toren Europas
Der Einzug der US Amerikaner 2003, in dessen Folge die Schiiten, die Mehrheit im Irak, an die Macht kam und fortan die Sunniten unterdrückte, beschleunigte diesen Vorgang. Damit war der Weg frei für eine engere Bindung an Teheran, welches über die gesamte Region, vom Irak bis zur Levante, schiitische Milizen etablierte, die mehr Richtung Teheran blicken als Bagdad, Damaskus oder Beirut zu folgen. Und eben jene Milizen bilden den „Schiitischen Halbmond“, welcher, getrieben durch den Willen nie wieder unterdrückt zu werden, die gesamte Region in kürzester Zeit in einen asymmetrischen Konflikt hineinziehen könnte - dies vor den Toren Europas, ohne dass die Europäische Außenpolitik ein glaubwürdiges Konzept hat, wie damit umzugehen ist.
Schlussendlich ist zu erwähnen, dass der Konflikt, welcher in Teilen den Religionskriegen vor dem Westfälischen Frieden auf europäischem Boden ähnelt, nur dann enden wird, wenn Sunniten und Schiiten die Spirale der Gewalt, auch im historischen Kontext, durchbrechen.
Der Autor ist Journalist und Verfasser des Buches „Peacemaker“, in dem er über seine Reisen für das gleichnamige Friedensprojekt durch den Nahen Osten berichtet. Er engagiert sich im Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland
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