Gescheitert im Albtraum

Warum der Rücktritt von Andrea Nahles mehr als ein Paukenschlag ist. Von Martin Lohmann
Nahles tritt vom SPD-Partei- und Fraktionsvorsitz zurück
Foto: dpa | Seit ihrer Jugend hatte Andrea Nahles immer die SPD im Blick. Nun ist ihre Parteikarriere zu Ende.

Sie hat Power. Sie gibt sich gerne stark. Sie kann sich schämen. Sie ist sensibel und hat Herz. Und: Sie will geliebt werden. All das kann man ihr nicht vorwerfen, dieser Vollblutsozialistin, die den Weg aus einem kleinen Eifeldorf auf die große politische Bühne im fernen Berlin suchte – und dort lautstark scheiterte. Mit einem Knall, den auch all jene nicht auf der Tagesordnung hatten, die sie doch so gut zu kennen schienen.

Denn Andrea Nahles lässt sich halt nicht in zweidimensionale Schemata pressen, für die sie mit manchen Auftritten - bis hin zur Peinlichkeit – die Legitimation zu bieten schien. Es ist vielleicht die Mischung aus hoher Sensibilität und Machtkalkül, welche die erste Frau an der Spitze dieser alten und ehemaligen Volkspartei dazu trieb, geradezu nüchtern an einem Sonntagmorgen zur Frühstückszeit ihren Totalrückzug zu verkünden. Sie hatte erkannt, dass sie zur Ausübung ihrer Ämter den notwendigen Rückhalt nicht mehr hatte.

Sie ging einfach fort, ohne Bätschi, ohne schiefen Singsang

Und so ging sie einfach fort, ohne Bätschi und ohne schiefen Singsang oder missglückten Wahlkampfauftritten mit fuchtelnd rudernden Armen und einem sich selbst exkulpierenden lauten Gelächter. Der Abschied war im Stil schließlich eher leise. Und er offenbarte eine Resignation, die aus einem Realismus erwächst, der die Eifelerin ebenso ausweist wie jedes Biegen mit lautem Lachen nach „Fresse“- und „Bätschi“-Platzbomben das vorlaute Mädchen zu offenbaren verstand, das im Weglachen als Ertappte die erkannte Scham zu übertünchen versuchte. Doch das allein erklärt noch nicht, warum Andrea Nahles, die als Abiturientin den Berufswunsch „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ angab, in einem Berliner Alptraum jäh scheiterte. Bundeskanzlerin steht jedenfalls jetzt nicht mehr auf der aktuellen Agenda. Ihre eigene Partei, der sie selbst sich stets in voller Solidarität hingab, verweigerte ihr eben jenes Gut, das manche deren Spitzenvertreter eben nur verbal beschwören können. Vielleicht ist Nahles auch an der Illusion zerschellt, ihre eigene Ehrlichkeit und der sich hinter mancher Attacke schützende Grundanstand seien letztlich auch bei den Stegners und Kühnerts irgendwo schlummernd vorhanden. Deren Respektsbekundungen nach dem selbstgesteuerten Abgang ihrer niemals wirklich gestärkten Vorsitzenden haben den Geschmack von gezuckertem Gift, vor allem wenn sie den Umgangsstil in Partei und Politik post factum mit erschrockenem Augenaufschlag „reumütig“ beklagen.

Sie ist auch an Angela Merkel gescheitert

Woran ist Andrea Nahles gescheitert? Die Gründe sind so vielfältig wie die Auftritte der ersten SPD-Vorsitzenden selbst. Natürlich auch an sich selbst. An ihren Einschätzungen der Partei. An ihren Illusionen hinsichtlich der gebotenen Unterstützung durch Parteifreunde. Wieder einmal können sich jene bestätigt fühlen, die die alte Steigerung noch kennen: Feind, Todfeind, Parteifreund! Aber sie ist auch gescheitert daran, dass sie, die den Beweis antreten wollte, eine Partei in der Regierungsarbeit zu erneuern, diesen Beweis schuldig blieb – weil sie ihn schuldig bleiben musste. Schon allein deshalb, weil diese Form der gelebten Schizophrenie selbst in der Politik und erst recht in der Regierung nicht funktioniert.

Andrea Nahles, der von jener Person, die ihr die Kanzlerschaft verdankt, nicht ganz uneigennützig ein „feiner Charakter“ konstatiert wird, fehlten auch die Ideen, mit denen eine von den Linken und den Grünen themenorientiert abgelöste Sozialdemokratie sich wieder hätte zu Wort melden können – und müssen, um überlebensfähig zu sein. Der „feine Charakter“ wurde keineswegs beantwortet mit dem Charakterzug, dem „roten“ Koalitionspartner wenigstens ansatzweise etwas Rotes zu gönnen, das man selbst längst – freilich schwarz lackiert – vereinnahmt hatte.

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Der Abgang von Andrea Nahles, jener bodenständigen und emotionalen Begabung aus der Eifel, hat letztlich etwas Tragikomisches. Denn ausgerechnet eine erste Frau an der Spitze, ausgerechnet ein immer wieder angstfreies sozialdemokratisches Urgestein mit den nachgewiesenen Fähigkeit der Leistung und des Fleißes, ausgerechnet eine ehemalige Hoffnungsträgerin wird zum Lackmustest für die Existenzfrage einer politischen Kraft, die aus dem Gestern lebt und denkt und die notwendige Chance gehabt hätte, jenseits von Egoismen als gestalterische Kraft des Sozialen erkennbar zu werden. Andrea Nahles wird somit aber zum Fanal für eine sich konsequent verändernde politische Landschaft auch in Deutschland, wo die beiden ehemals selbstverständlichen „Volks“-Parteien ins wechselhafte Getümmel von Mehrheiten durch weniger traditionsgebundene Parteientreue geworfen werden. Der Fall Nahles offenbart – gewollt oder nicht – einen Niedergang ins Nichts, der einer CDU noch bevorsteht.

Vielleicht eine Zäsur für alle Volksparteien

Diese hat zwar unter ihrer langen Führung durch Merkel alle Themen den Linken und Grünen adaptiert und anscheinend christdemokratisch gewandelt. Doch das einzige programmatische Argument, das sich im Bekenntnis zur Kanzlerin manifestierte, ist schon bald auch kein Scheinargument mehr.

Nahles ist, wenn man so will, letztlich auch an jener Machtfigur gescheitert, die ihr noch einen „feinen Charakter“ hinterherrief. Es kann sein, dass genau dieser letztlich charaktervolle und aus Realismus sowie Sensibilität erwachsene Rückzug von Andrea Nahles eines Tages als Zäsur nicht nur für die SPD gesehen werden muss. Denn noch deutet nichts darauf hin, dass die einst etablierten „Volks“-Parteien verstanden haben, wie ernst es um sie steht. Noch sind Achtsamkeit und Inhalt eher im Verborgenen - wenn überhaupt.

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