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Geblendet im neuen Syrien

Der Weg nach Damaskus, ein Jahr nach der Machtergreifung der Islamisten. Die schrumpfende christliche Minderheit schwankt zwischen vager Hoffnung und um sich greifender Angst.
Mar Elias Kirche
Foto: Missio/Simon Kupferschmied | Helen in der vom Terror demolierten Mar Elias Kirche bei Damaskus, wo sie ihre beste Freundin verlor. 21 Christen kamen bei dem Terroranschlag zu Tode.

Kolonnen verbeulter Autos, Schlangen gestikulierender Menschen. Es herrscht Andrang an der Grenze ins „neue“ Syrien. Oben in den Bergen des Libanon ist knapp ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes alles anders. Rückkehrer reihen sich ein, füllen geduldig Formulare aus, lassen sich von den Vorposten der ausgewechselten Machthaber herumkommandieren. Diese tragen nun Bärte, sitzen vor neuen Computern – und erledigen die Grenzformalitäten doch weiter auf Papier.

Dann die Fahrt hinunter in die Ebene, wo sich die Hauptstadt ausbreitet. Verschwunden sind die Porträts von Diktator Assad, der mal im dunklen Anzug, mal mit verspiegelter Sonnenbrille einst allgegenwärtig wirkte. Irgendwo dort, kurz vor Damaskus, muss Saulus, der eifrige Christenverfolger, von Gott geblendet worden sein. Ein plötzlicher Lichtblitz, unerwartet und heftig, der alte Ordnungen einreißt und erst einmal alles in Finsternis taucht. Was tritt zum Vorschein im „neuen“ Syrien?

Auf den Dächern feiner Hotels steigen erste Rooftop-Events

Party! – könnte man rufen, wäre man ein Tourist. So wie die Gruppen von Chinesen, die sich schon im Zentrum der Altstadt tummeln. In Bab Tuma, dem historischen christlichen Viertel, direkt an der Via Recta, der Geraden Straße, wo Saulus’ späterer Helfer Hananias als früher Leiter der christlichen Gemeinde lebte, werden fleißig neue Pflastersteine verlegt. Assad, der gefallene Herrscher, wird im nahen Basar hingegen nur mehr auf Socken verlacht. Auf den Dächern feiner Hotels steigen derweil erste Rooftop-Events. Es fließen Whiskey und Wein. An den Wänden räkeln sich leichtbekleidete Frauen, die in amerikanischen Musikvideos an die nächtliche Wand projiziert werden. Die Jugend tanzt, lacht – ein Hauch von Normalität, der nach Freiheit schmeckt.

„Hier ist was los“, sagt einer in perfektem Deutsch. Er erzählt, nur ein paar Straßen weiter aufgewachsen zu sein. Dann die Flucht, seit zehn Jahren bereits in Deutschland, dort ausgebildet zum IT-Fachmann, so wie einst in Angela Merkels Vision. Fast schon zu perfekt. Jetzt sei er das erste Mal zurück – auf Heimaturlaub und für seine Hochzeit. „Ein lokales Mädchen, von der Familie ausgesucht“, berichtet er. Die Feier fände, muslimisch streng nach Geschlechtern getrennt, nächste Woche statt. Die Braut? „Die kommt mit nach Berlin.“ Und frühmorgens dann, Glockenklänge aus den zahlreichen Kirchtürmen des Viertels, ein Chor, der die Nacht vertreibt.

Eine Welle des Hasses brach über Christen herein

Wer will, kann sich so blenden lassen. Kann glauben, die neuen Mächtigen meinten es ernst. So wie es ihr Chef, Präsident Ahmad al-Sharaa, kürzlich in Washington verkündete. Dort scherzte er mit Donald Trump im Oval Office. Der beschied ihm zwar eine „harte Vergangenheit“, „aber die haben wir ja alle, nicht wahr?“ Al-Sharaa ging den klassischen Weg eines Islamisten von unten nach oben: vom einfachen Al-Kaida-Kämpfer zum Anführer gefürchteter Kampfbrigaden mit zehntausenden Männern unter Waffen. Mit ihnen eroberte er Anfang Dezember vorigen Jahres Aleppo und stand binnen einer Woche vor Damaskus, worauf der Assad-Clan hastig die Flucht nach Moskau ergriff. Kein Haar werde man den Christen krümmen, betonte al-Sharaa in ersten Interviews. Was fast vergessen ließ, dass Amerika noch kurz zuvor zehn Millionen Dollar Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte.

Bald aber verschwindet Damaskus’ Altstadt wie eine Schimäre im Rückspiegel. Die Fahrt führt vorbei an völlig pulverisierten Vierteln, ausgebombten Häusern und Checkpoints, an denen Kämpfer aus dem fernen Kaukasus Position bezogen haben. Und dann, wie so oft in Syrien, kippt das Bild aus zwölf Jahren Bürgerkrieg in eine intakte Stadtstruktur. Mehr noch. Marienstatuen an Straßenecken, Kreuze, eine Kirche. Davor eine gespannte Plane. In ihrer Mitte: der heilige Elias. Daneben die Köpfe von 21 Frauen und Männern. Es ist die Stätte eines Massakers. Der Blick fällt auf Märtyrer. „Das da unten links ist Marian“, sagt Helen schüchtern und zeigt mit zittrigem Finger auf das Bild ihrer besten Freundin. 

Eine klaffende Wunde im neuen Syrien

Es ist der 22. Juni, ein Sonntag. Am Abend findet in der griechisch-orthodoxen St.-Elias-Kirche die göttliche Liturgie statt. Helen ist spät dran, wurde aufgehalten. Sonst gehen die Freundinnen immer gemeinsam. Beide singen sie im Kirchenchor. Als Helen das Tor öffnet, läuft gerade die erste Lesung. Plötzlich fallen Schüsse. Eine Explosion. Dann nur noch Finsternis. „Ich wurde am Rücken und am Ohr verletzt. Marian starb drei Tage später im Krankenhaus.“ 23 Jahre war sie. „Ein Engel“, wie ihre gebrochenen Eltern sagen und dabei immer wieder über ihr Foto auf dem Ehrenplatz ihres Hauses streichen. Pharmazie-Studentin im letzten Jahr, höchst engagiert in der Gemeinde, betreute sie Jugendgruppen, versäumte keine Messe. „Ich blickte direkt auf sie, bevor die Schüsse fielen“, erinnert sich Abu Bhouttros, der Priester, der nun im Schutt der Baustelle seiner Kirche steht. „Es war ein Täter im Tarnanzug. Er stand direkt vor mir. Er schoss in die Seitenreihen. Zwei Patronen stecken bis heute in den Mauern. Dann lief er nach hinten. Messbesucher stürzten sich auf ihn. Sie drückten ihn zu Boden. Bis er sich in die Luft sprengte.“ Helen und der Priester blicken hinunter in den Krater, der eine klaffende Wunde im neuen Syrien aufreißt.

Bashar al-Assad zur Witzfigur degradiert
Foto: Missio/Simon Kupferschmied | In Al-Sharaas „neuem“ Syrien ist der früher gefürchtete Diktator Bashar al-Assad zur Witzfigur degradiert worden.

„In den Wochen zuvor waren Islamisten vor der Kirche aufgetaucht“, erinnert sich Helen. „Sie hatten Megafone, störten und riefen zur Bekehrung zum Islam auf.“ Damals vertrieben die Christen aus dem Viertel sie – und ahnten doch bereits einen Vorboten für Schlimmeres. Aber niemand aus dem neuen Staatsapparat nahm das ernst. Kein Schutz, kein Verständnis, bis zum Fanal. Und selbst danach, als die Zahl der Toten auf 25 stieg und mehr als 50 teils schwer verletzt waren, kam nichts außer leeren Bekundungen. Als der Bischof dies beim Begräbnis beklagte, unterbrach der Staatsfunk eilfertig die Übertragung. In den sozialen Medien brach eine Welle des Hasses über die christliche Minderheit herein, die es gewagt hat, die neuen Herrschenden öffentlich zu kritisieren. Ohnedies von einst zehn Prozent der syrischen Bevölkerung auf knapp über zwei zusammengeschrumpft, fühlt sich die geschätzte halbe Million an verbliebenen Christen so allein wie nie zuvor. In der säkularen Diktatur Assads ganz normale Bürger aus der Mittel- und teils Oberschicht, geraten sie nun immer stärker in die Rolle gerade noch geduldeter Außenseiter.

Scharen von Kämpfern wollen nun Beute machen

„Ich habe nicht nur eine Freundin, die wie eine Schwester war, verloren“, sagt Helen, „sondern auch den Glauben an das Gemeinsame.“ Viele ihrer sunnitischen Freunde, die mit 70 Prozent die Mehrheit in Syrien stellen, wandten sich ab. „Religion war früher nie ein Thema zwischen uns. Sie hatten ihre, wir die unsere. Freunde waren wir trotzdem.“ Mit der Machtergreifung der Islamisten kippte das ins Gegenteil. Ohne direkte Anordnung von oben schlugen viele der Schergen aus den Kämpferbrigaden, die länger als ein Jahrzehnt gegen Assad gefochten hatten, sogleich gegen Minderheiten wie die verhassten Alawiten und Drusen los. Mehr als 2.000 Menschen wurden so laut UN-Schätzungen allein seit Jahresbeginn getötet. „Als diese Gräueltaten passierten, sagten viele, das geschähe denen schon recht“, meint Helen, „und ich war fassungslos. Das sind Menschen, die ich gut zu kennen glaubte. Und von denen ich feststellen musste, dass sie nur Masken getragen hatten. Schöne Masken.“

Im Rückblick reicht der Riss noch tiefer. Ja, der verhasste Diktator ist weg, mit ihm sein gefürchteter Geheimdienst. Doch die neue Freiheit schlug rasch um in ein Triumphgeheul derer, die darin den Beginn einer neuen Ordnung im Sinne der Scharia sehen. Helen ist keineswegs allein mit ihren Schilderungen, sich, sobald es dunkel wird, nicht mehr auf die Straße zu trauen. Scharen von Kämpfern, teils Einheimische, teils vom Ruf des Dschihad aus der halben Welt nach Syrien gelangt, wollen nun Beute machen – ganz gleich, was ihr Oberer in Interviews verkünden mag. Berichte von Übergriffen und Entführungen von Frauen aus den Minderheiten sind Teil der bitteren Wirklichkeit des „neuen“ Syrien geworden. Die Angst davor treibt noch mehr der Jungen zur Emigration. Auch Helen, die Logopädin ist, hatte bereits ihren Arbeitsvertrag in Dubai daheim auf dem Tisch liegen.

Das war allerdings, bevor ihr zweites Leben begann. So wie die Arbeiter in der St. Elias-Kirche an deren Wiederauferstehung hämmern, fasst auch Helen neue Pläne. Dubai ist erst einmal abgesagt. Sie will bleiben, auch der Eltern wegen. „Kürzlich feierten wir in Erinnerung an unsere Märtyrer 21 Taufen“, berichtet der Priester, „alle trugen wir Weiß, als Zeichen der Hoffnung“. Der Mann, der einst wohl unweit von hier vom Pferd fiel und aus dem später Paulus wurde, schrieb: „In Hoffnung sind wir gerettet – auf das, was wir nicht sehen.“


Der Autor ist Chefredakteur des alle welt-Magazins von Missio Österreich. Für dieses bereiste er nun zwei Wochen das „neue“ Syrien.

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