Peking

G7-Gipfel lässt Konflikt mit China deutlich werden

Der G7-Gipfel sendete Signale der Stärke an China. Aber was weiß der Westen wirklich über chinesische Strategie? Und ist sich vor allem Deutschland den geopolitischen Dimensionen bewusst?
Chinesischer Präsident Jinping
Foto: Ju Peng (XinHua) | Unter seiner Ägide wurden die geopolitischen Strategien Chinas zu einem Gesamtprogramm geformt: Chinas Präsident Xi Jinping.

Die „Bild“-Zeitung verkündete am 28. März 2021: „Unser Sommer ist in Gefahr!“ Aber es ging nicht um das Weltklima oder um Corona, sondern um ein im Suez-Kanal gestrandetes Containerschiff, das die Lieferung chinesischer Gartenmöbel blockierte. Für einen kurzen Augenblick nahmen Deutschlands Konsumenten wahr, dass ihr Dasein vom weltweiten Handel und dem Wechselspiel von Raum, Zeit und Kräften bestimmt wird. Der Faktor China wird dabei gelegentlich noch immer unterschätzt. Ein Perspektivwechsel trägt zum besseren Verständnis bei.

In Peking ließt man auch Carl Schmitt

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Ein Beispiel: Die Stadt Chengdu in der Provinz Szechuan. Die Millionenstadt ist stolz auf ihre Bahnverbindung mit Duisburg. Die Frage „Warum Duisburg?” sorgt bei den chinesischen Gesprächspartnern für Irritation: „Die Stadt ist doch der Binnenhafen Rotterdams!“ Nach dieser erhellenden Auskunft verblüfft es nicht, wenn in Peking außer Karl Marx auch Clausewitz und Carl Schmitt gelesen werden. Chinas Strategen verbinden die klassischen Lehren von Sun Tsu oder die Ratschläge der 36 Strategeme mit westlichem Gedankengut und modernster Technologie. Dabei analysieren sie technische und ökonomische Fragen ebenso wie universale Menschheitsthemen unter genauer Beachtung chinesischer Ambitionen und Interessen. Es geht um die weltweite Umverteilung von Reichtum und Macht. Chinas Stärke beruht auf dem koordinierten und systematischen Vorgehen, das jeder großen Strategie eigen ist.

Ihre analytischen und konzeptionellen Grundlagen wurden seit 1979 unter Deng Xiaoping gelegt, aber ihr vollständiges Wirkungsspektrum entfaltete sich erst nach Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahre 2001. Pekings Strategie umfasst fünf entscheidende Domänen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Bildung. Bereits 1998 forderte der damalige Präsident Jiang Zemin, nach dem Desaster der leistungs- und bildungsfeindlichen Kulturrevolution müssten Chinas Hochschulen rasch Weltniveau erreichen. Fünf Jahre später veröffentlichte die Jiao Tong-Universität in Shanghai das „Academic Ranking of World Universities“, heute als Shanghai-Ranking bekannt. Eine strategische Machtfrage war gestellt: Wer zensiert die globale Hochschullandschaft des 21. Jahrhunderts? Kurz darauf folgte als angelsächsische Antwort das „Times Higher Education Ranking“.

Das geopolitische Programm hat Verfassungsrang

Unter Präsident Xi Jinping gab Chinas Führung ihrer Gesamtstrategie einen Namen. Im Westen als „Belt and Road Initiative” bezeichnet, erhielt das geopolitische Programm 2017 Verfassungsrang. Bis zur Mitte des Jahrhunderts soll eine neue Weltordnung entstehen, die chinesischen Interessen und Leitbildern entspricht. Infrastrukturprojekte größten Stils sind tragende Elemente. Künstliche Inseln, riesige Hafenanlagen und Kanäle sollen das Anthropozän gestalten. Hochgeschwindigkeitstrassen überwinden Meeresarme und Hochgebirge. Im Vergleich mit chinesischen Flugplätzen wirkt Berlins neuer Flughafen wie eine dörfliche Landepiste.

Das strategische Ziel und die operativen Instrumente Chinas spiegeln Machtwillen und Leistungsbereitschaft einer Gesellschaft, die ihre Schwächen kennt. Neben dem Mangel an Rohstoffen und der kritischen demographischen Entwicklung fallen dabei regionale Ungleichgewichte und ethnische Spannungen in Grenzprovinzen weniger ins Gewicht. Auch eine Petrifizierung des autoritären Systems erscheint eher als langfristiges Risiko. Aber kann nicht ein disruptives Ereignis den dynamischen Trend brechen? Als Ende 2019 in Wuhan die Pandemie ausbrach, fragten viele: Was wird aus China? Heute kennen wir die Antwort: Das Land bleibt Motor der Weltwirtschaft und stärkste Macht auf der eurasisch-afrikanischen Landmasse.

Das Reich der Mitte ist sich dieser Tatsache bewusst. Sein Streben nach imperialer Hegemonie entspricht der chinesischen Wahrnehmung der Weltgeschichte. Nicht ohne Grund werden in der Universität Peking, der geistigen Kaderschmiede des Landes, Rankes Werke gelesen und aktuelle westliche Globalisierungskonzepte als Versuche gedeutet, das von Großbritannien im 19. Jahrhundert geschaffene, nach zwei Weltkriegen von den USA übernommene, seegestützte Weltimperium ideologisch zu legitimieren. Doch wird, so die Einschätzung chinesischer Strategen, der liberale Imperialismus anglo-amerikanischer Prägung aufgrund seiner inhärenten Schwächen im gewaltfreien Wettbewerb unterliegen. Nicht zuletzt im Kernbereich amerikanischer Macht, so die Diagnose, stimuliert die liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung soziale Fragmentierung. Gleichzeitig schwächt der Liberalismus aus chinesischer Perspektive die Effizienz westlicher Regierungspraxis und begünstigt kulturelle und geistige Dekadenz.

Die westliche Selbsteinschätzung ist eine andere

Verständlicherweise ist die westliche Selbsteinschätzung eine andere. So hält die politische Elite der USA unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit an einer Weltordnung fest, die amerikanische Interessen und Werte sowie den Status der USA als globaler Führungsmacht sichern soll. Doch nimmt Washington spätestens seit der Finanzkrise des Jahres 2008 und dem Scheitern der Interventionen im Irak und in Afghanistan mit wachsender Sorge zur Kenntnis, wie rasch sich der Aufstieg Chinas unterhalb der Schwelle militärischer Konfrontation vollzieht. Peking treibt seine Strategie der weltweiten „pénétration pacifique“ mit Nachdruck voran.

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General McMaster, zeitweise nationaler Sicherheitsberater Donald Trumps, veröffentlichte unlängst seine Impressionen während des Staatsbesuchs in Peking 2017. Damals begleitete er seinen Präsidenten und die First Lady beim Besuch der Verbotenen Stadt. Ihr Führer war Xi Jinping. Unter dem Eindruck der Visite gelangte McMaster zur Überzeugung, dass neben Nordkoreas Nuklearprogramm die fundamental andere Weltsicht Chinas für die USA die größte Gefahr darstellt. Für den General reduzierte das mehr als 2 000 Jahre alte imperiale Staatsverständnis der chinesischen Führung den nordamerikanischen Subkontinent auf die Funktion eines Rohstoff- und Nahrungsmittellieferanten.

Um die Pazifik-Anrainer dem Einfluss Chinas zu entziehen und wirtschaftlich stärker an die USA zu binden, hatte Präsident Obama im Februar 2016 das Handelsabkommen der Trans-Pacific Partnership unterzeichnet. Aber unmittelbar nach seiner Amtseinführung zog Donald Trump im Januar 2017 die präsidentielle Unterschrift zurück und verlegte den Schwerpunkt der amerikanischen Chinastrategie vom ökonomischen auf den militärischen Bereich. Im September 2018, knapp ein Jahr nach dem Staatsbesuch in Peking, legte eine interministerielle Arbeitsgruppe dem Präsidenten umfassende Empfehlungen zur militärischen Modernisierung und Aufrüstung vor. Ein vertraulicher Aktionsplan wies das Pentagon an, Technologien zu fördern, die den Sieg der USA im Kräftemessen mit China sichern sollen.

Die jüngste, im April 2021 veröffentlichte gemeinsame Bedrohungsanalyse der US-Nachrichtendienste entspricht den Erklärungen Präsident Bidens und seines Außenministers Blinken vor und während des jüngsten G7-Gipfels. Danach befinden sich Washington und Peking in einem epochalen machtpolitischen Wettbewerb. Besondere Besorgnis erregen die weltweiten Infrastrukturprojekte Chinas, bezwecken sie doch nach amerikanischer Einschätzung neben der Errichtung einer exklusiven chinesischen Herrschaftssphäre in Asien die Kontrolle über weltwirtschaftlich wichtige Handelsrouten und Knotenpunkte.
Bemerkenswert ist schließlich ein im Frühjahr 2021 erschienener politischer Thriller, der in kürzester Zeit zum Bestseller wurde. Als Ko-Autor von „2034: A Novel of the Next World War“ zeichnete Admiral James Stavridis verantwortlich, der als SACEUR von 2009 bis 2013 höchster Offizier der NATO war. Der Roman beginnt mit einem Zwischenfall im Südchinesischen Meer, der sich als Teil eines chinesisch-iranischen Komplotts erweist und einen weltumspannenden Konflikt auslöst.

Natürlich handelt es sich nur um eine Fiktion. Aber Stavridis herausragende militärische Karriere und Position legen es nahe, dass sein Buch in Washington sorgfältig lektoriert wurde.

Wie positioniert sich Deutschland?

Kein Zweifel: Ein Kalter Krieg zwischen den USA und China zeichnet sich ab und wird in den nächsten Jahren einen dunklen Schatten auf die internationalen Beziehungen werfen. Deutschland muss sich als Exportnation, Mittelmacht und zentraler Staat der Europäischen Union positionieren, denn es geht um vitale Interessen: In welchem Umfang kann die deutsche Wirtschaft künftig ihre Märkte in den USA und China nutzen? Stehen ihr die weltweiten Seewege und die strategische Infrastruktur Eurasiens weiter ungehindert zur Verfügung? Reicht es aus, das sinnvolle, aber in Brüssel auf Eis gelegte europäisch-chinesische Investitionsschutzabkommen durch die Entsendung einer deutschen Fregatte in ostasiatische Gewässer auszubalancieren? Ist nicht bereits heute die Abhängigkeit deutscher Schlüsselindustrien von chinesischen Zulieferern viel zu groß? Und welche Auswirkungen hat das Kräftemessen zwischen Washington und Peking auf Europas Verhältnis zu Moskau?

Strategisches Denken soll Wege in die Zukunft weisen. Realistischerweise ist zu erwarten, dass sich der bevorstehende Bundestagswahlkampf auf innenpolitische Themen konzentrieren wird. Doch scheint in Berlin die Erkenntnis zu reifen, dass in der nächsten Legislaturperiode geostrategische Grundsatzfragen nicht mehr auszuklammern sind. Die notwendigen institutionellen Voraussetzungen müssen geschaffen, konzeptionelle Defizite beseitigt werden. Der Kanzlerkandidat der Union hat die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats ins Gespräch gebracht.

Über diesen schon mehrfach unterbreiteten Vorschlag geht der vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte Entwurf eines „Neustaats“ hinaus. Er lässt ahnen, in welchen Dimensionen Berlin künftig denken muss. Schließlich geht es um mehr als um die Lieferung von Gartenmöbeln aus China.


Der Autor war von 2006 bis 2008 deutscher Botschafter in Afghanistan und von 2009 bis 2012 Botschafter in Südkorea. Danach leitete er die Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes. Er ist Senior Advisor der Agora Strategy Group und Fellow des Liechtenstein Institute on Self-Determination der Princeton University.

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