"Freiheit oder Zentralismus?"

Der ÖVP-Europaabgeordnete Lukas Mandl sieht Österreichs Aufgabe darin, Brücken zu bauen. Von Stephan Baier
Österreich zu EU-Vorsitz
Foto: dpa | In der Vorwoche stimmte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz das Programm der am 1. Juli beginnenden EU-Ratspräsidentschaft Wiens mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ab.

Am 1. Juli beginnt die österreichische EU-Ratspräsidentschaft. Was ist davon zu erwarten?

In einer Ratspräsidentschaft sind vor allem Gastfreundschaft und Agenda-setting gefordert. Österreichs neue Bundesregierung hat ihre Schwerpunkte rasch klargemacht: Sicherheit, Subsidiarität und Südosteuropa. Italien könnte aufgrund der neuen Regierung noch ein Thema werden, immerhin ist Italien eine große Volkswirtschaft und ein Gründungsstaat des vereinten Europa.

Seit der Einführung eines ständigen EU-Ratspräsidenten – aktuell Donald Tusk – sind die rotierenden Ratspräsidentschaften weniger relevant. Sind sie Relikte eines alten, staatenbündischen Europa?

Eine klare Führung ist für die EU generell wichtig. Ich denke da für die Zukunft auch an einen gewählten Kommissionspräsidenten. Ich meine auch, dass es mit Brüssel eine EU-Hauptstadt gibt, die als solche benannt werden sollte. Die rotierenden Ratspräsidentschaften sind eine Chance, den Bürgerinnen und Bürgern einen engeren Kontakt zu den EU-Institutionen zu ermöglichen. Das hat auch eine identitätsstiftende Wirkung und ist sozialer Kitt.

Zwischen etlichen EU-Staaten bräuchte es derzeit auch Kitt: Kann Wien Brücken zwischen den Lagern bauen, etwa zwischen den Visegrad-Staaten und der Berlin-Paris-Achse, oder zwischen Polen und der EU-Kommission?

In Anlehnung an ein Wort der österreichischen Bischofskonferenz sage ich: Wer Europa liebt, spaltet es nicht. Spaltungstendenzen kommen sowohl von Nationalisten als auch von Zentralisten. Es gibt sie in der Nord-Süd-Achse wie auf der Ost-West-Achse. Ich sehe meine Aufgabe auch darin, solchen Spaltungstendenzen – egal, aus welcher Ecke sie kommen – entschieden zu begegnen. Bei sonst großer Wertschätzung für die Reformideen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bin ich skeptisch, ob ein eigenes Budget für die Eurozone Gräben überwinden würde. Die Gräben würden eher vertieft. Dennoch gehört Macron zur Reform-Achse in der EU, zu der ich auch den Regierungschef der Niederlande, Mark Rutte, und Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz rechne. Und: Ja, Österreich versteht sich darin, Brücken zu bauen, und wir tun das auch täglich.

Hat Österreich eine besondere historische und geografische Verantwortung für Südosteuropa? Die Staaten zwischen Kroatien und Griechenland drängen in die EU, doch gibt es noch erhebliche Probleme und Dissonanzen.

Ich will nicht naiv sein: Alle sechs Westbalkan-Staaten sind heute noch nicht EU-reif. Aber angesichts der Tatsache, dass es aus der Türkei, aus China, Russland und Saudi-Arabien hier Einflüsse gibt, die nicht dem Wertebild Europas entsprechen, haben wir ein hohes Eigeninteresse, den Westbalkan an die EU heranzuführen. Das setzt die Verständigung und Versöhnung zwischen dem Kosovo und Serbien voraus. Auch Washington verlangt vom Kosovo die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, dennoch werden die Amerikaner herzlicher begrüßt und eher als Freunde gesehen als wir Europäer. Das müssen wir ändern durch weniger Bürokratismus und mehr auch emotionale Involvierung. Die Zukunft des Westbalkan liegt in der EU! Hier kann die österreichische Ratspräsidentschaft sicher Fortschritte bringen, insbesondere bei der Aussöhnung zwischen Serbien und Kosovo.

In den muslimisch dominierten Ländern Südosteuropas ist die Türkei sehr aktiv, in den orthodox geprägten Russland. Wie kann die EU sicherstellen, dass nicht Teile Europas unter Erdogans oder Putins Vormundschaft geraten?

Wir müssen geschlossen auftreten. Es ist ein Versäumnis, dass fünf EU-Mitgliedstaaten die Republik Kosovo bisher nicht anerkannt haben. Das kann überwunden werden, weil der Kosovo nicht vergleichbar ist mit den Problemen innerhalb dieser fünf Staaten. Zudem müssen wir deutlich machen, woher die großen Hilfen kommen: Die EU ist der größte Förderer Südosteuropas. Die EU-Zustimmung ist übrigens im Kosovo am höchsten und in Serbien am kritischsten. Dennoch müssen wir zwischen beiden Versöhnung stiften. Es schien einstmals undenkbar, dass Deutschland und Frankreich versöhnt leben, doch heute sind sie die starken Zugpferde der Europäischen Union. Also muss es möglich sein, dass der Kosovo und Serbien eine Verständigung finden. Hier Brücken zu bauen, wäre eine Aufgabe Österreichs.

Hier spricht die österreichische Bundesregierung aber nicht einmütig: Die FPÖ agiert stets einseitig pro-serbisch, was in Bosnien und dem Kosovo für Verstimmung sorgt. Wer garantiert, dass Wien mit einer Stimme spricht und während der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft bei der EU-Position bleibt?

Österreich ist auf dem Westbalkan sehr engagiert. Über die Regierungspolitik bin ich sehr glücklich, denn diese Bundesregierung hat eine klare Positionierung: Das Regierungsprogramm ist pro-europäisch und reformorientiert. Bei einzelnen Aussagen des Koalitionspartners ist mein Zugang, das Gespräch zu suchen. Das habe ich schon mehrmals gemacht. Man muss mit Zahlen, Daten und Fakten arbeiten, um zu überzeugen und muss auf die echten Probleme hinweisen.

Auch gegenüber Russland schlägt die FPÖ andere Töne an: Vizekanzler Strache kritisierte zuletzt die EU-Sanktionen gegen Russland.

Österreich ist das östlichste Land des politischen Westens. Es hat daher eine Tradition im Brückenbauen. Hunderte Diplomaten sind im Streit zwischen Russland und dem Westen abgezogen worden, schlimme Worte sind gefallen – aber irgendwann muss dieser Streit beigelegt werden, und zwar unbedingt ohne Gewalt. Dafür wird es Brückenbauer brauchen, wofür Österreich in der richtigen Position wäre. Eine große Herausforderung ist aufzuklären, ob es Wahlbeeinflussungen von außen in den USA, in Deutschland oder Frankreich gab – auch mit Blick auf die Europawahl im kommenden Jahr. Dagegen muss man mit allen politischen, diplomatischen und technischen Mitteln ankämpfen, denn das würde wirklich die Demokratie in Frage stellen.

Im jüngsten Wahlkampf mahnte ÖVP-Vorsitzender Sebastian Kurz FPÖ-Chef Strache, sich andere Freunde im Europäischen Parlament zu suchen: Warum sitzt die FPÖ weiter mit den Schmuddelkindern in einer Fraktion?

Im Europäischen Parlament interessiert mich die FPÖ nicht mehr oder weniger als jede andere Partei, weil wir hier keine Koalitionen haben. In Österreich haben wir mit der FPÖ eine gemeinsame Bundesregierung, die gemeinsam eine Ratspräsidentschaft vorbereitet. Hier wird Österreich in Europa ganz viel zugetraut. Österreichs Agenda kommt gut an: Alle konstruktiven Kräfte wollen über Sicherheit, etwa beim Außengrenzenschutz, und über Subsidiarität reden.

2019 finden wieder Europa-Wahlen statt. Warum wird das Europäische Parlament von den Bürgern so wenig als Volksvertretung erkannt?

Es gibt einen Mangel an Parlamentarismus-Tradition: Auch in Österreich ist vielen nicht klar, dass sie nicht nur einen Friseur oder Anwalt, sondern auch Abgeordnete als Bürgervertreter haben. Das gilt es immer neu zu erklären und zu leben. Ich halte den Austausch mit den Bürgern für essenziell und will, dass das Dienstleistungsangebot Parlament angenommen wird.

Hilft das System europaweiter Spitzenkandidaten, wie es 2014 erstmals versucht wurde, dabei, die Identifikation mit dem Europäischen Parlament zu steigern?

Solange es keine Direktwahl des Kommissionspräsidenten gibt, ist es gut, dass es einen Spitzenkandidaten gibt, und damit die Frage, wer Europa nach der Wahl nach außen repräsentieren soll. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass der eigene Abgeordnete der Ansprechpartner für die Anliegen der Bürger ist.

Hängt die EU-kritische Stimmung auch damit zusammen, dass unübersehbar ist, wer in der EU für was zuständig ist?

Subsidiarität ist leider ein hohler Begriff geworden, der neu mit Leben erfüllt werden muss. Subsidiarität bedeutet einerseits, dass die kleinere Einheit jene Aufgaben erledigen soll, die sie erledigen kann, aber zugleich, dass es für manche Aufgaben größere Einheiten braucht. Gerade im Bereich von Sicherheit und Digitalisierung brauchen wir die europäische Ebene. Der Schutz der Außengrenzen ist für mich das Beispiel, warum wir eine stärkere EU brauchen. Dringend ist eine Aufstockung von „Frontex“, denn die EU muss ihre Grenzen selbst schützen können. Die EU steht heute – wie jedes Gemeinwesen von Zeit zu Zeit – vor der Frage nach dem Menschenbild: Ist sie vom Ideal der Freiheit und der Subsidiarität geprägt, oder vom Zentralismus? Ich stehe auf der Seite der Freiheit. Zweitens brauchen wir einen echten Parlamentarismus auf EU-Ebene, wo wir Europaabgeordneten das Gegenüber zur EU-Kommission sind. Drittens sollte die EU nach außen viel selbstbewusster auftreten. Wir haben als Europäer heute in der Welt eine positive Rolle. In der Geschichte war das oft erschreckend anders. Darum sollten wir selbstbewusster nach außen wirken, statt nach innen Überregulierung und Zentralismus zu betreiben. Was die Tendenz zur Regulierung angeht, gilt der Satz Montesquieus: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen.“ Wir brauchen ein Europa, das nach außen stark und eine Supermacht des Friedens ist, aber nach innen subsidiär geordnet.

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