Flucht nach vorne

Nach Libanon-Wahl: Politik muss Flüchtlingsproblem lösen. Von Gerhard Arnold
Papst Franziskus und Bechara Boutros Rai
Foto: KNA | Er ist eine Schlüsselfigur für die weitere Entwicklung im Libanon: Boutros Bechara Kardinal Rai, der Patriarch der Maroniten.
Papst Franziskus und Bechara Boutros Rai
Foto: KNA | Er ist eine Schlüsselfigur für die weitere Entwicklung im Libanon: Boutros Bechara Kardinal Rai, der Patriarch der Maroniten.

Am 6. Mai dieses Jahres waren rund 3,6 Millionen libanesische Wähler aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Der ordnungsmäßige Ablauf ist schon ein kleiner politischer Erfolg gewesen, nachdem in dem politisch instabilen Land neun Jahre lang nicht gewählt werden konnte. Das konfessionalistische Herrschaftssystem des Landes wurde aber nicht verändert, weil weiterhin die Hälfte der insgesamt 128 Sitze im Parlament an die Christen, die andere Hälfte an Muslime gehen. Die politische Zersplitterung auch der Christen hat eine lange Tradition. Der laut Verfassung christliche Staatspräsident, gegenwärtig der Maronit Michel Aoun, führt die Freie Patriotische Bewegung an. Die „Libanesischen Kräfte“ und die Phalangisten vertreten ein rechtsgerichtetes christliches Spektrum.

Die Maroniten, mit Rom uniert, bilden die mit Abstand größte Kirche im Libanon. Dementsprechend hat das öffentliche Wort dieser Kirche unter ihrem Patriarchen Boutros Bechara Rai auch politisch Gewicht. Zu einem Thema hat er sich seit letztem Jahr immer drängender geäußert: Zu der schweren Last durch die vielen syrischen Flüchtlinge, unter der der Libanon leidet. Bei 4,5 Millionen Staatsbürgern sind 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem kriegsgeschüttelten Nachbarland eine große Zahl, sowie etwa eine halbe Million Palästinenser, von denen viele noch in Lagern leben. Wie soll ein wirtschaftlich schwaches Land mit schwachen staatlichen Institutionen (Schul-, Sozial- und Gesundheitssystem) mit dieser schieren Zahl der Flüchtlinge zurechtkommen? Der maronitische Patriarch sorgte sich, wie der ohnehin zerbrechliche religiöse Proporz im Land zwischen Christen, Sunniten, Drusen und Schiiten nach der Aufnahme der sunnitischen Flüchtlinge stabil bleiben könne.

Im letzten Jahr war nach der Rückeroberung von Aleppo durch syrische und verbündete Streitkräfte eine spürbare Konfliktberuhigung in dem Bürgerkriegsland eingetreten, ohne an der humanitären Notlage in weiten Teilen des Landes etwas zu ändern. Jedenfalls kehrten 700 000 Binnenflüchtlinge an ihre alten Wohnorte zurück, Zigtausende wagten von der Türkei aus die Rückkehr.

In dieser Situation forderte Patriarch Rai von der Regierung nun konkrete Pläne zur schnellstmöglichen Flüchtlingsrückkehr und wies auf sichere Zonen in Syrien hin. Nicht nur der bedrohte Religionsproporz beunruhigte ihn, sondern auch die Belastung für die Sicherheitslage im Land. Wiederholt griffen Sicherheitskräfte in Lagern Terrorverdächtige auf.

Die Flüchtlings-Kriminalität erzeugte in der einheimischen Bevölkerung zunehmend Ressentiments, was auch den Patriarchen beschäftigte. Am Rande einer Bischofsversammlung im Oktober letzten Jahres sah er darin den „Ausdruck von Undankbarkeit“, wodurch unschuldige Flüchtlinge zu Unrecht in Verruf gerieten. Der Staatspräsident und der maronitische Patriarch haben seit Jahresbeginn immer wieder auf die nicht mehr hinnehmbaren wirtschaftlichen und finanziellen Lasten für den Libanon hingewiesen. Die internationale Gemeinschaft komme ihrer Verpflichtung nicht nach, für die Flüchtlinge ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, die für das laufende Jahr auf etwa vier Milliarden US-Dollar beziffert wurden. Dem Libanon drohe die Luft auszugehen und die eigene Bevölkerung verarme immer mehr. Unmittelbar nach der endgültigen Eroberung der Rebellenhochburg Ost-Ghouta am östlichen Stadtrand von Damaskus Mitte April durch syrische Streitkräfte brachten libanesische Behörden etwa 500 syrische Flüchtlinge auf freiwilliger Basis, aber im Konflikt mit dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR, nach Syrien zurück.

Staatspräsident Michel Aoun ist nun in einer Erklärung vom 4. Mai der Haltung der EU und der UNO entgegengetreten, mit der Rückführung der Flüchtlinge solange zu warten, bis sich die Sicherheitslage in Syrien erheblich verbessert habe. Der Präsident betonte, die Flüchtlinge stellten eine „existenzielle Bedrohung“ für den Libanon im Blick auf dessen „Stabilität, Unabhängigkeit und Souveränität“ dar. Er erwarte deshalb von EU und UNO, den Libanon bei der sicheren Rückführung der Syrer in ihre Heimat zu unterstützen. Patriarch Rai hat sich in einer Rede bei einem großen Essen der Maronitischen Liga dieser Forderung angeschlossen. Politische Diskussionen in den letzten Wochen haben die Maroniten in neue Unruhe versetzt. Mit dem sunnitischen Saudi-Arabien im Hintergrund erhoben sich politische Stimmen im Libanon, die eine dauerhafte Ansiedlung der syrischen Flüchtlinge erlauben wollten.

Nach Meinung von Patriarch Rai hätte dies unvorhersehbare Auswirkungen nicht nur auf die ohnehin schwierige Wirtschaftslage, sondern würde das empfindliche Gleichgewicht der verschiedenen Religionsgruppen im Land weiter belasten. In Predigten wandte er sich auch gegen weitere Überlegungen, Flüchtlingen die libanesische Staatsbürgerschaft zu gewähren.

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