Wird Europa von einer neuen Welle der Sezessionen und damit des Staatszerfalls bedroht? Nicht nur viele Katalanen streben derzeit nach Eigenstaatlichkeit. In Schottland scheiterte 2014 ein Referendum über den Austritt aus Großbritannien an 55 Prozent Nein-Stimmen, doch beflügelt der von den Schotten mehrheitlich abgelehnte Brexit die Unabhängigkeitsdebatte neu. Der baskische Separatismus und die Terroranschläge der ETA stecken Spanien noch in den Knochen. In Italien wollen Venetien und die Lombardei zumindest mehr Autonomie, in Belgien wirken flämische Separatisten, in Frankreich korsische.
Zu Kriegen und Vertreibungen hat das Ringen um nationale Selbstverwirklichung und Eigenstaatlichkeit in Südosteuropa geführt. Der multiethnische Kunststaat Jugoslawien barst 1991, als sich nach den Slowenen auch die Kroaten mit 94,3 Prozent für die Unabhängigkeit von Belgrad entschieden: Beide Völker wollten nicht länger in einer serbisch dominierten Diktatur leben, sondern als freie und selbstbestimmte Nationen in einem demokratischen Europa. Der vom jugoslawischen Kommunisten zum serbischen Nationalisten mutierte Diktator Slobodan Milosevic versuchte, dies mit Krieg und Vertreibung zu verhindern. Während der Vatikan die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens rasch befürwortete, zögerten die Staaten Europas.
Zwei völkerrechtliche Prinzipien prallten hier nämlich aufeinander: das staatliche Recht auf territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Tatsächlich war der Separatismus der 1990er Jahre, der die Sowjetunion und Jugoslawien sprengte, ein Kampf gegen Diktatur und Kolonialismus, für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Gegen Moskau erkämpften sich etwa Letten, Esten, Litauer, Armenier, Aseris, Georgier und Ukrainer die Freiheit; gegen Belgrad die Slowenen, Kroaten und schließlich die Kosovo-Albaner.
Die nationale Frage ist damit aber keineswegs gelöst – und sie scheint im nationalstaatlichen Sinne auch unlösbar: Mehr als 200 angestammte ethnische Minderheiten mit gut 40 Millionen Angehörigen gibt es allein in den 28 EU-Mitgliedstaaten. Kroatien zählt 14 solcher Volksgruppen, Italien 13, Bulgarien, Estland und Lettland je elf. Wie brennend die Frage ihrer Rechte ist, hängt von der jeweiligen Kultur und Mentalität, aber auch von der Größe und den Außenbeziehungen ab.
Darum ist die Lage in Polen, wo die Titularnation trotz 13 Minderheiten 95 Prozent der Bevölkerung stellt, weniger brisant als im Baltikum: Jeweils rund ein Viertel der Bevölkerung Estlands und Lettlands sind Russen, die wenigstens teilweise in Moskau ihren Schutzherrn wähnen und von Wladimir Putin dazu auch animiert werden. Durch die Mitgliedschaft der drei baltischen Staaten in EU und NATO ist deren Staatlichkeit zwar vor Übergriffen, wie sie Putin gegen Georgien und die Ukraine unternahm, einigermaßen gesichert, doch ist das Unruhepotenzial beträchtlich.
Der Balkan hat viele Pulverfässer
Ähnliches gilt für Südosteuropa: Während Slowenien und Kroatien nach 1995 und vor allem nach ihrer EU-Aufnahme 2004 beziehungsweise 2013 zur Ruhe gekommen sind, ist die nationale Frage zwischen Kroatiens Südgrenze und Griechenlands Nordgrenze weiter virulent. In Bosnien-Herzegowina sorgt eine der beiden Landeshälften, die „Republika Srpska“ seit 1995 dafür, dass sich der Gesamtstaat nicht stabilisiert. Die bosnische Serbenrepublik strebt offen nach der Zerstörung des Staates und dem Anschluss an Serbien.
Unter massivem Druck von USA und EU hat das Parlament in Banja Luka zwar nun am Dienstag ein geplantes Referendum über die Unabhängigkeit ausgesetzt, doch das Ziel bleibt unverändert und untergräbt stetig die Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas. Die serbische Staatsbürgerschaft haben Bosniens Serben ohnedies bereits. Nicht minder komplex ist der Fall des zu 93 Prozent albanisch bewohnten Kosovo. Dessen Unabhängigkeit von Serbien schien Washington und den meisten Staaten Europas 2008 alternativlos, nachdem Serbiens Diktator Milosevic zwischen 1991 und 1999 versucht hatte, die Kosovo-Frage durch einen Völkermord zu lösen. Einige EU-Staaten, die selbst mit separatistischen Strömungen zu ringen haben, zogen bei der Anerkennung allerdings nicht mit. So haben Spanien, Rumänien, Griechenland, Zypern und die Slowakei die kosovarische Staatlichkeit bis heute nicht anerkannt.
Wie die Kosovo-Albaner früher Minderheit in Jugoslawien beziehungsweise Serbien waren, so sind nun rund 25 000 Serben (neben Roma, Bosniaken, Montenegrinern und Türken) eine Minderheit im Kosovo. Im Gegensatz zu den anderen Minderheiten wird den Serben im Kosovo allerdings von Belgrad suggeriert, sie seien die eigentlichen Eigentümer des Landes und seiner Geschichte. Und wie einst Putin bei der russischen Besetzung der Krim eine reichlich schräge Parallele zum Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren zog, so meinten auch jetzt etliche Kommentatoren, bis hin zur serbischen Ministerpräsidentin Ana Brnabiæ, dass sich die Katalanen wohl mit demselben Recht für unabhängig von Spanien erklären dürften wie zuvor die Kosovaren von Serbien. Von Europas doppelten Standards war in Belgrad die Rede.
Die massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen des serbischen Regimes gegen die Kosovo-Albaner waren jedoch der Hauptgrund, warum 23 der 28 EU-Staaten die Unabhängigkeit dieses zweiten albanischen Staates auf dem Balkan für geboten hielten. Vergleichbares ist unstrittig weder in Katalonien noch in Schottland der Fall. Auffällig ist aber schon, dass die EU gegenüber Beitrittskandidaten massiv auf die Wahrung von Minderheitenrechten drängt, während ihr bei den eigenen Mitgliedstaaten die Hände gebunden sind. Während Kroatien massiv zu anspruchsvollen Volksgruppenrechten gedrängt wurde, können „alte“ Mitgliedstaaten wie Frankreich und Griechenland die Existenz von Volksgruppen auf ihrem Staatsgebiet schlicht bestreiten. Mehr noch: Paris und Athen verhinderten die Verankerung von Volksgruppenrechten im EU-Vertragswerk, so dass der EU-Vertrag von Lissabon nur schüchtern von den „Rechten der Personen, die Minderheiten angehören“ spricht.
Um die explosiven nachbarschaftlichen Verhältnisse auf dem Balkan zu kalmieren, drängt Brüssel nicht nur auf Aussöhnung und regionalen Handel, sondern auch auf Minderheitenrechte. Nicht zuletzt die Entschärfung des jahrzehntelang strittigen Südtirol-Problems hat gezeigt, dass ungerechte Grenzziehungen und traumatische Erfahrungen ganzer Volksgruppen auf zwei Wegen gelöst werden können: durch Europäisierung und weitreichende Autonomierechte. Wo beides gewährt wird, muss Selbstbestimmung nicht zwangsläufig auch Sezession bedeuten.