Wladimir Putin stand knapp vor dem Sieg. Seine jahrelange Infiltrations- und Desinformationsarbeit zeigte Früchte: Der Westen war tief gespalten, die NATO in der Identitätskrise, die EU nur noch vom Geld zusammengehalten. Millionen Europäer glaubten die Lügenpropaganda, die via Russia Today und Sputnik auf sie herniederprasselte, linke und nationalistische Parteien verklärten den russischen Potentaten zum Retter der Werte Europas. Auch Moskaus Desinformationskampagne gegen die Ukraine und ihre Führung wurde im Westen gerne geglaubt: Die Mär vom zerrissenen, korrupten Land, in dem die russische Minderheit von ukrainischen Nationalisten misshandelt werde, setzte sich in vielen Köpfen fest.
Putin hat die Lage falsch interpretiert
Bis 23. Februar taktierte Putin geschickt: Er hatte die verachtete "Regionalmacht" (Barack Obama) Russland in die Mitte der weltpolitischen Bühne zurückgebracht. Seine militärischen Interventionen in Syrien, Libyen und Mali wurde vom Westen achselzuckend hingenommen, ebenso Moskaus Militärpräsenz in Abchasien, Südossetien, Armenien und Transnistrien. Alle Versuche der EU, sich gegen die Kreml-Propaganda auf dem eigenen Gebiet zu wehren oder die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu reduzieren, blieben halbherzig. Mit seiner Drohkulisse gegen die Ukraine hatte der Kremlchef die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltpolitik. Viele waren zu vielen Konzessionen bereit, um den Kreml zu besänftigen und den Frieden zu retten.
All das hat Putin missinterpretiert. Er glaubte an die eigene Stärke, an die Zerstrittenheit der Ukraine und die Schwäche des Westens Fehleinschätzungen, wohin man blickt. Tatsächlich ist die Ukraine ein heterogenes Land: historisch, ethnisch, sprachlich und religiös. Dennoch ist sie seit 2013 geschlossener denn je, weil sie unter Entbehrungen und Leid dafür kämpfte, ein Leben wie die Europäer zu leben statt in der Despotie Putins aufzugehen. Diese Wahl eint die Ukrainer über alle Verschiedenheiten hinweg. Sie führt zu einer Widerstandskraft, die Freund und Feind überrascht. Wolodymyr Selenskyj war ein talentierter Schauspieler und Anti-Politiker, der in der Stichwahl immerhin von 73 Prozent gewählt wurde. Heute ist er der unumstrittene Anführer seines Landes, ein im In- und Ausland bewunderter Kriegspräsident, der neue Held des Westens.
Niemand stirbt für Wertpapiere, aber für Werte
Putins Krieg gegen die Ukraine hat die Nebel in den Köpfen der Europäer gelichtet: Weiß und Schwarz sind als solche wieder erkennbar und nicht länger Schattierungen von Grau. In diesem Krieg gibt es keinen Zweifel darüber, wer Täter oder Opfer ist. Offenkundig ist auch: Niemand stirbt für Wertpapiere, aber für Werte. Niemand kämpft für Bankomaten, aber für Freiheit. Niemand riskiert seine Existenz für mehr Wohlstand, aber für ein Leben in Würde. So hat der heroische Widerstand der Ukrainer dem Westen die Zeit und die Möglichkeit gegeben, über seine eigene Identität nachzudenken. Die Menschen in der Ukraine leiden und sterben auch für uns - für unsere Ideale.

Darum ist Putin jetzt der Paria des Westens: ein Lügner, Killer und Kriegsverbrecher, der nicht davor zurückschreckt, Krankenhäuser und Kirchen bombardieren zu lassen, russische Wehrpflichtige und ukrainische Zivilisten auf dem Altar seiner groß-russischen Ideologie zu opfern. Ein Tyrann, der im eigenen Land mit Lüge und Gewalt regiert, weil die Lüge zur Verwirrung führt und die Gewalt zur Angst. Lüge und Gewalt sind die tragenden Säulen der Tyrannei - auch der geistigen: So entlarvt Jesus den Teufel als "Vater der Lüge" und "Mörder von Anbeginn" (Joh 8,44).
Es bleibt nicht bei Zeichenhandlungen
Selenskyj ist heute der Star des Westens, der in Video-Zuschaltungen den Abgeordneten im Europäischen Parlament, im US-Kongress, im britischen Unterhaus, im Deutschen Bundestag und anderen Hallen der Demokratie einheizt und dafür euphorisch gefeiert wird. Die Bereitschaft, für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zu kämpfen und nötigenfalls zu fallen, hat in ihm ein Gesicht bekommen. Viele Politiker lassen sich von Selenskyj inspirieren: mitunter peinlich, wie der unrasierte Emmanuel Macron mit Kapuzenpullover im Élysée, aber auch beeindruckend heroisch, wie die Regierungschefs Polens, Tschechiens und Sloweniens, die mit dem Zug nach Kiew fuhren, um ihre Solidarität sichtbar zu machen. Was für eine Zeichenhandlung: Drei Ministerpräsidenten - Mateusz Morawiecki, Petr Fiala und Janez Jansa - fahren durch Kriegsgebiet, setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel, weil die ukrainischen Nachbarn ihr Leben für die Ideale Europas aufs Spiel setzen!

Die freien Europäer beließen es nicht bei Zeichenhandlungen: Der Europarat beschloss am Tag nach Putins Überfall auf die Ukraine, die Mitgliedschaft Russlands zu suspendieren; 42 der 47 Mitgliedstaaten votierten dafür. Wenig später folgte der Ausschluss. Auch die Europäische Union reagierte schneller, härter und geschlossener als erwartet. Ihre Solidarität ist nicht nur rhetorischer oder finanzieller Natur. Erstmals finanziert die EU in großem Umfang die Lieferung von Waffen an einen Staat im Krieg. Sie schnürte ein Sanktionspaket, das sie selbst teuer zu stehen kommt, aber Russland wirtschaftlich in die Knie zwingt. Unter den Spitzen der EU und ihrer Staaten ist Konsens, dass Putin nie wieder ein Partner sein kann: Seine Desinformations-Instrumente werden zerstört, seine Energie-Waffe wird stufenweise entschärft, die zusammengestohlenen Oligarchen-Vermögen im Westen werden eingefroren oder beschlagnahmt. Das vereinte Europa will den Regimewechsel in Moskau. Was hellsichtige Beobachter wie Otto von Habsburg schon 1999 wussten, ist nun Konsens: Putin stellt eine Gefahr für alles dar, woran Europa glaubt - für Völkerrecht, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Frieden.
Der Westen hat sein "Wir" wiederentdeckt
Nicht nur das vereinte Europa agiert angesichts der Kriegsverbrechen des russischen Diktators geschlossen. Die USA, Großbritannien, Japan und die Schweiz tragen die Sanktionen mit oder erlassen eigene, die nicht weniger konsequent sind. Der Westen hat sein "Wir" wiederentdeckt. Getragen von einer erwachten Zivilgesellschaft ist Europa plötzlich klar, dass es Freiheit nicht zum Nulltarif gibt, dass Werte auch Kampf erfordern, dass Solidarität ihren Preis hat. Das vereinte Europa besinnt sich seiner eigenen Gründungsidee, also der Entschlossenheit zum Frieden um jeden Preis nur nicht um den Preis der Freiheit.
Der beste Beleg dafür ist die Wiederentdeckung des heroischen Ideals, aber in einem erwachsenen, nicht-infantilen Sinn: Nicht der Aggressor gilt als Inbegriff der Stärke, sondern die unbewaffneten Zivilisten, die in Russland gegen den Krieg demonstrieren und dafür niedergeknüppelt oder weggesperrt werden, die TV-Journalistin, die aus Gewissensgründen mit einem Anti-Kriegs-Plakat vor die laufende Kamera springt, die ukrainischen Männer, die ihre Familien in den Zug nach Polen setzen, um selbst in den Kampf zu ziehen, die Priester, die überall in der Ukraine
bei ihren Gemeinden ausharren. Dieser Heroismus inspiriert, zu beten, zu helfen, zu spenden, zu kämpfen. Er beweist, dass die Ukraine zu Europa gehört: zu seiner Kultur, seinen Werten und seiner Zukunft. Er belegt, dass es ein anderes, besseres Russland gibt und nach der unseligen Putin-Ära geben kann.
Der Krieg vor der Haustür der EU hat die Gesellschaften und die politische Klasse Europas aufgeweckt. Er hilft auch, die zeitgeschichtliche und kulturelle Spannung innerhalb der EU zu überwinden: das böse Vorurteil, die "neuen" EU-Mitglieder in Mittelosteuropa sähen Brüssel nur als Bankomat, hätten Nachholbedarf, müssten letztlich so werden wie die "alten" EU-Staaten im Westen. Nun hört ganz Europa der Premierministerin Estlands zu, die aus der Erfahrung ihres Landes analysiert, wie Putin tickt. Nun ziehen alle den Hut vor der Klarsicht der Polen und Balten, die den Kremlchef realistischer einschätzten als viele Franzosen, Deutsche und Österreicher. Nun bewundern alle die Großherzigkeit der Polen, die die Tore am weitesten für die Nachbarn in Not aufrissen. Putins Krieg gegen die Ukraine kann zum Wendepunkt für Europa werden, zum Startschuss für eine kontinentale, robuste Friedensmacht, die bereit ist, ihre Ideale und Werte zu verteidigen. Schon hat Putin den Informationskrieg gegen die Ukraine und den Wirtschaftskrieg gegen den Westen verloren. Wenn Europa jetzt Kurs hält, wird er auch militärisch scheitern. Der ukrainische Widerstand inspiriert die Geburt eines neuen Europas, das sich als Macht des Friedens und der Sicherheit versteht.
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