In dieser Woche weht die blau-gelbe Fahne der Ukraine einträchtig neben der blauen Flagge mit dem gelben Sternenkranz vor dem Europäischen Parlament in Brüssel: Europa und die Ukraine – in Fahnen vereint, in Solidarität verbunden. Noch vor kurzem schien der Westen seine Geschlossenheit verloren und seine Identität vergessen zu haben. Durch den Krieg des Kreml gegen die Ukraine hat er, zudem in untypischer Geschwindigkeit, beides wiedergefunden: die Geschlossenheit im Handeln wie die Identität, denn die Einigung Europas war von Anfang an eine Friedensidee. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach zu Recht von einem „Wendepunkt für unsere Union“.
Angriff verurteilt
Am Dienstag verurteilten das Europäische Parlament und Vertreter der anderen EU-Institutionen offiziell die Aggression Putins gegen die Ukraine. Wladimir Putin werde für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, ebenso wie der Diktator von Belarus, Alexander Lukaschenko, sagte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Dienstagnachmittag in Brüssel. Sie dankte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenksyj für die Opfer seines Volkes: „Sie haben der Welt gezeigt, dass unsere Lebensart es wert ist, verteidigt zu werden.“
Die EU werde die nötigen Waffen an die Ukraine liefern und habe die Propaganda-Werkzeuge Putins verboten, so die Präsidentin des Europaparlaments. Es könne „keine neutrale Position geben zwischen dem Feuer und der Feuerwehr“. Europa dürfe auch nicht länger „vom Gas des Kreml“ abhängig bleiben. Die Oligarchen Putins sollten sich nicht mehr verbergen können, auch dürften deren Jachten keinen Hafen in Europa mehr finden.
Unter Standing Ovations der Europaabgeordneten wurde der ukrainische Präsident Selenskyj per Video aus Kiew zugeschaltet. „Die Bürger, die ihr eigenes Land verteidigen, sind Helden“, sagte er in einer leidenschaftlichen Rede. „Wir lassen unser Leben für unsere Rechte und für den Wunsch, frei zu leben.“ Es gebe die europäische Wahl der Ukraine, aber: „Ich möchte gerne von Ihnen hören, dass diese ukrainische Wahl für Europa gegenseitig ist. Wir kämpfen für unsere Freiheit, für unsere Rechte, für das Überleben, aber auch dafür, dass wir gleichberechtigte Europäer sein dürfen.“ Die EU solle nun beweisen, „dass Sie wirklich an unserer Seite stehen“.
Für die Freiheit
EU-Ratspräsident Charles Michel sagte, Putin habe den Krieg begonnen, weil sich die Ukrainer auf dem Maidan (gemeint ist: bei den Protesten 2013/14) für die Freiheit entschieden haben. Michel warf Putin „geopolitischen Terrorismus“ vor. Die Europäische Union habe „massiv und mit beispiellosen Sanktionen“ reagiert, weil die Werte und die Zukunft Europas auf dem Spiel stünden. Putin habe geglaubt, dass er die EU spalten und Tatenlosigkeit vorfinden werde – „aber er hat sich geirrt“.
„Wir müssen unsere Abschreckungs-Kapazitäten ausbauen, um Krieg zu verhindern“, forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Die EU habe Putin gezeigt, dass sie die eigene Freiheit und die Freiheit anderer niemals auf dem Altar des eigenen Wohlstands opfern werde. „Wir werden die Verteidigung der Menschenrechte und Freiheiten nicht aufgeben.“ Die „Kräfte des Bösen“ seien weiter vital, darum müsse die EU weiter geschlossen vorgehen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dankte besonders Polen, Rumänien und Ungarn für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Die EU habe blitzschnell schwere Sanktionen gegen die Finanzsysteme und Schlüsselindustrien Russlands in Gang gesetzt, die den Kreml schwer treffen würden: „Hier wird der Hahn zugedreht für Putins Krieg.“ Jeder Schritt der EU sei eng abgestimmt mit den USA, Kanada, Großbritannien, Japan und vielen anderen Ländern.
Putin versucht zu spalten
„Wenn Putin versucht hat, den Westen und die NATO zu spalten, hat er genau das Gegenteil erreicht“, so von der Leyen. Die Sanktionen seien mit hohen Kosten verbunden, aber die Freiheit habe ihren Preis. Zur Energiesicherheit meinte sie nur: „Wir können uns nicht auf einen Zulieferer verlassen, der uns bedroht.“ Die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas müsse durch strategische Investitionen in alternative Energien reduziert werden.
Viele Europaabgeordnete trugen während der Debatte T-Shirts mit der gelb-blauen Flagge der Ukraine oder gelb-blaue Schleifen. Eine ukrainische Fahne stand neben der blauen Fahne mit dem gelben Sternenkranz im Plenarsaal. Gäste aus der Ukraine hatten sich auf der Tribüne eingefunden und wurden von den Abgeordneten mit stehendem Applaus begrüßt.
Waffenlieferungen sind nicht länger tabu
Zuvor rangen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht nur zu umfangreichen Wirtschaftssanktionen gegen das kriegführende Russland durch. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte finanziert die Europäische Union den Kauf und die Lieferung von Waffen und militärischem Gerät für ein Land, das unter Beschuss steht. Und dies nicht mit Peanuts, sondern im Volumen von einer halben Milliarde Euro. Die EU finanziert darüber hinaus Treibstoff, Schutzausrüstung und medizinische Notfallversorgung für die Ukraine. „Ein weiteres Tabu ist gefallen. Das Tabu, dass die Europäische Union in einem Krieg keine Waffen zur Verfügung stellt“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dazu am Sonntag. „Ja, wir tun es! Denn dieser Krieg erfordert unser Engagement, um die ukrainische Armee zu unterstützen.“ Es ist, wie Borrell richtig sagte, „das erste Mal in der Geschichte, dass die EU tödliche Ausrüstung an ein Drittland liefert“.
Auch wenn einzelne EU-Mitglieder (wie Orbáns Ungarn, aus Angst um die Ungarn in Transkarpatien) Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen, entspricht dieses Vorgehen einem breiten Konsens von den baltischen Staaten bis zum Mittelmeer. Quer durch die politischen Lager und nationalen Sonderinteressen tragen die 27 Regierungen der EU-Mitgliedstaaten diesen Tabubruch solidarisch mit. Viele von ihnen liefern selbst bereits Panzerabwehrwaffen, Boden-Luft-Raketen, Maschinengewehre und anderes Kriegsgerät an die um ihr Überleben kämpfende Ukraine.
Gegen Finanzelite
Der Hauptschlag Europas jedoch richtet sich gegen die Finanzeliten Russlands. Die Wirtschaftssanktionen treffen vor allem die Oligarchen mit ihren Milliardenvermögen im Westen. Keine kapitalistische Gesellschaft des Westens kennt ein vergleichbares soziales Gefälle: Ein Prozent der Russen besitzt mehr als 57 Prozent des Volksvermögens. Die EU und die USA unterbinden alle Geschäfte mit der russischen Zentralbank und frieren deren Vermögenswerte auf ihrem Hoheitsgebiet ein. Sogar die Schweiz schloss sich diesen Maßnahmen am Montag an. Ein Großteil der russischen Devisenreserven ist nun blockiert. Der Rubel ist im freien Fall.
Als Feind identifiziert hat die EU aber nicht nur Putin samt seiner Finanzelite, sondern auch seine lange geduldeten Propaganda-Instrumente. Der Kremlchef wolle „den Geist der Menschen mit giftigen Botschaften durch Lügen erobern“, so Borrell, der dem Kreml „massive Desinformationskampagnen in der Ukraine, in unserer Nachbarschaft und in der EU“ vorwarf. Der Sender RT, die Agentur Sputnik und ihre Tochtergesellschaften sollen in der EU verboten werden. Sie sollen, wie Ursula von der Leyen formulierte, „nicht mehr in der Lage sein, ihre Lügen zu verbreiten, um Putins Krieg zu rechtfertigen und unsere Union zu spalten“.
Offen für Flüchtlinge
Eine unerwartbare – und von Putin gewiss auch unerwartete – Geschlossenheit zeigt sich auch in der Frage der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen. Hatte die Migrationskrise der Jahre 2015/16 das vereinte Europa tief gespalten, und zwar die Regierungen ebenso wie die Bevölkerung, so öffnen sich nun allerorten Tore für die notleidenden Nachbarn. Die damals gescholtenen EU-Mitglieder zeigen sich nun besonders eifrig in der Hilfsbereitschaft, allen voran Polen, aber auch Ungarn und die Slowakei. Die EU gewährt allen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine unbürokratisch ein dreijähriges Bleiberecht, ohne irgendein aufwendiges Asylverfahren.
Geschlossener und solidarischer denn je
Während Kiew noch vor kurzem keinerlei Chancen hatte, einen Start von EU-Beitrittsverhandlungen auch nur in Aussicht gestellt zu bekommen, sprechen sich jetzt immer mehr EU-Staaten – darunter die Nachbarländer Ungarn, Slowakei und Rumänien – und auch die Kommissionspräsidentin genau dafür aus. „Sie gehören zu uns, und wir wollen sie dabei haben“, so Ursula von der Leyen am Montag, als der ukrainische Präsident im olivgrünen Kampfanzug kameragerecht den EU-Beitrittsantrag seines Landes unterzeichnete.
Am Montag sperrte die Europäische Union ihren gesamten Luftraum für alle in Russland registrierten oder von Russland kontrollierten Flugzeuge. Auch das trifft die Oligarchen, die mit ihren Privatjets nicht mehr zu ihren Luxusappartements nach Paris oder ihren Villen an der Cote d‘Azur fliegen können.
Nicht nur Donald Trump stellte einst die Existenzberechtigung der NATO in Frage, auch Emmanuel Macron sprach vor nicht allzu langer Zeit davon, das westliche Verteidigungsbündnis sei „hirntot“. Jetzt ist alles ganz anders. Sollte Wladimir Putin damit gerechnet haben, sein Überfall auf die Ukraine werde die ohnehin zerstrittenen und geschwächten Staaten des Westens wie einen Hühnerhaufen auseinanderjagen, so irrte er gewaltig. Geschlossener und solidarischer denn je präsentieren sich nicht nur die Mitgliedstaaten der EU und der NATO, sondern darüber hinaus all jene Staaten, die sich weiter zu den Prinzipien des Völkerrechts bekennen.
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