Selbst posthum noch lässt es der Erfinder des Dynamits, Alfred Nobel (1833-1896), regelmäßig richtig krachen. So etwa wenn – dank seiner gut angelegten Millionen – einmal im Jahr Forscher verschiedener Disziplinen mit dem nach dem schwedischen Chemiker benannten Nobelpreis ausgezeichnet werden. In diesem Jahr hatte die Oscar-Verleihung der Naturwissenschaften allerdings starke Konkurrenz. Steigende Corona-Infektionszahlen und der US-Wahlkampf liefen dem sich für gewöhnlich über eine Woche hinziehenden Event diesmal eindeutig den Rang ab. Das war selbst am Mittwoch vergangener Woche nicht anders, als der Nobelpreis im Fach des Stifters selbst verliehen wurde.
Neuer Sprengstoff
Mit der französischen Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier und der US-amerikanischen Biochemikerin Jennifer Doudna zeichnete die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften zwei Wissenschaftlerinnen mit dem Chemie-Nobelpreis aus, deren Erfindung es in punkto gesellschaftlicher Sprengkraft mit der von Nobels Dynamits locker aufnehmen kann.
In einer 2012 im Wissenschaftsmagazin „Science“ publizierten Arbeit beschrieben Charpentier und Doudna, wie sich aus einem bei Bakterien gefundenen Abwehrmechanismus gegen Viren ein molekulargenetisches Werkzeug programmieren lässt, das in der Lage ist, den genetischen Code von Pflanzen, Tieren und Menschen zu bearbeiten. Schneller, präziser und preiswerter als mit allen anderen Werkzeugen, die bis dahin zum Einsatz kamen.
Gencode lässt sich leicht verändern
Mit dem unter dem Namen CRISPR/Cas9 firmierenden Molekülverbund verteidigen sich Bakterien gegen den Befall von Bakteriophagen. Bakteriophagen benötigen – mangels eines eigenen Stoffwechsels – einen Wirt, um sich zu vermehren. Dazu „kapern“ sie ein Bakterium, schleusen ihre DNA in die Wirtszelle ein und „zwingen“ sie, statt der Bakterien- die Phagen-DNA zu replizieren. Doudna und Charpentier fanden nicht nur heraus, dass jene Bakterien, die einen solchen Angriff überlebten, kurze Fragmente der Phagen-DNA in ihre eigene einbauten, sondern auch wo.
Nämlich zwischen Sequenzen, die japanische Forscher bereits Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entdeckt hatten und die sie „CRISPR“ tauften. CRISPR ist ein Akronym und steht für „Clustered Regulary Interspaced Short Palindromic Repeat“. Die Archivierung der abgelegten Phagen-DNA erlaubt es den Bakterien, einmal besiegte Angreifer im Falle eines neuen Angriffs wiederzuerkennen und ein Protein (Cas9) herzustellen, das die Phagen-DNA aus der eigenen herausschneidet.
Lebewesen verändern

Die von Charpentier und Doudna nach diesem Vorbild entwickelten Genscheren nutzen eine von Forschern programmierbare Guide-RNA, die genau der DNA-Abfolge der Zielsequenz entspricht. Hat die Genschere die Stelle gefunden, trennt Cas9 den DNA-Doppelstrang dort auf. Anschließend flicken zelleigene Reparaturmechanismen die losen Enden wieder zusammen.
Dabei können die Scheren nicht nur einzelne DNA-Bausteine ausschneiden, sondern auch austauschen oder ganz neue einfügen. Und weil sich mit CRISPR/Cas9 der genetische Code von Lebewesen theoretisch wie in einem Textverarbeitungsprogramm – Buchstabe für Buchstabe – verändern lässt, spricht man hier auch vom „Genom Editing“.
So wie seinerzeit Nobels Dynamit dem hochgefährlichen Nitroglycerin, das schon bei kleinsten Erschütterungen zu explodieren pflegte, den Rang ablief, so ersetzt die von Charpentier und Doudna entwickelte Genschere CRISPR/Cas9 heute die bis dahin gebräuchlichen Werkzeuge wie Zinkfingernuklease und TALEN („Transcription activator-like effector nuclease“). Inzwischen gibt es praktisch kein molekulargenetisches Labor mehr, in dem Forscher nicht mit CRISPR/Cas9 oder einer seiner längst zahlreichen Modifikationen arbeiten.
Leicht einzusetzen
Und damit ist das Ende der Parallelen zwischen Nobels Dynamit, der das flüssige Nitroglycerin mit dem Mehl von Algenschalen verband, und der Genschere von Charpentier und Doudna noch nicht einmal zu Ende. Denn so wie Elastizität des neuen Sprengstoffs diesen weit weniger anfällig für Erschütterungen und damit einfacher im Umgang für jedermann machte, so kann auch die CRISPR/Cas-Technologie heute von jeder gut ausgebildeten Laborkraft eingesetzt werden.
Und hier wie da, hat die einfache Bedienbarkeit auch ihren Preis: Denn so wie sich für Nobels Dynamit nicht bloß Industrie und Militär interessierten, sondern auch Terroristen und Attentäter, so interessieren sich für die neuen Genscheren heute nicht nur Forscher, die durch Eingriffe in das Erbgut von Nutzpflanzen und Tieren, deren Ertrag respektive Leistung oder ihre Resistenz gegen Schädlinge verbessern und Menschen heilen wollen, sondern auch solche, die den Menschen genetisch zu verbessern und den Homo sapiens sapiens zu überwinden gedenken.
Bereits 2018 verwandte der Chinese He Jiankui die Genschere, um in einem Humanexperiment die ersten genetisch modifizierten Kinder im Labor zu erzeugen, die gegen HI-Viren immun sind. Die „scientific community“, die Gemeinschaft der Wissenschaftler, reagierte zwar empört. Allerdings nicht deshalb, weil Jiankui das Erbgut von Menschen in Teilen tatsächlich modifiziert hatte, sondern weil sein Experiment als verfrüht betrachtet wurde und er angeblich nur wenige Forscher in sein Vorhaben eingeweiht haben soll.
Ein „Aushängeschild“ für den Wissenschaftsstandort
Mit der Verleihung des Nobelpreises dürfte auch die von einigen Forschern angestrebte Ächtung der Genschere zum Zweck von Eingriffen in der menschlichen Keimbahn endgültig vom Tisch sein (siehe Leitartikel Seite 8). In den Reaktionen von Wissenschaftsinsitutionen spielte sie bereits keine Rolle mehr. So erklärte etwa der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Gerald Haug: „Mit dem Nobelpreis werden in diesem Jahr bahnbrechende Erkenntnisse im Bereich der Genomforschung gewürdigt, mit denen große Hoffnungen für die Anwendung in Medizin, Biotechnologie, Tier- und Pflanzenzucht verbunden sind.“ Er freue sich, dass mit Emmanuelle Charpentier eine herausragende Kollegin der Max-Planck-Gesellschaft geehrt werde.
Charpentier, seit 2018 Direktorin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin, ist seit 2015 Mitglied der Leopoldina in der Sektion Humangenetik und Molekulare Medizin. Auch Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) gratulierte. Sie freue sich, dass mit Charpentier und dem deutschen Astrophysiker Reinhard Genzel in diesem Jahr gleich zwei in Deutschland arbeitende Wissenschaftler einen Nobelpreis erhalten hätten. Beide Entscheidungen des Stockholmer Preis-Komitees zeigten, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland „exzellent und wettbewerbsfähig“ sei.
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