Politik

Erdogans Muskelspiele

Angriffe gegen den Islam kommen dem türkischen Präsidenten gerade recht. Dann kann er auf der Klaviatur der religiösen Gefühle spielen. Ein Kommentar.
Präsident Recep Tayyip Erdogan setzt auf große Emotionalisierung
Foto: IMAGO/Turkish presidency \ apaimages (www.imago-images.de) | Wer der Türkischen Republik und dem Glauben der Muslime keinen Respekt zolle, könne nicht mit der türkischen Unterstützung für einen NATO-Beitritt rechnen, polterte Erdogan.

Ein zögerlich-zaudernder, entscheidungsschwacher Staatenlenker, wie ihn sich Deutschland mitten im Krieg leistet, würde im östlichen Mittelmeerraum keinen Wahltag politisch überleben. Auf dem Balkan, in der Türkei und im Orient muss ein Regierungs- oder Staatschef laut auftreten und die Muskeln spielen lassen. So demonstriert auch Recep Tayyip Erdogan seinen Türken immer wieder, dass er dem Rad der Weltpolitik kraftvoll in die Speichen greifen kann. Je schwächer die Wirtschaft ist, desto stärker wächst der Drang zu außenpolitischen Muskelspielen - und die türkische Wirtschaft ist derzeit in einer ziemlich tiefen Dauerkrise.

Erdogan setzt auf große Emotionalisierung

Da kommen dem türkischen Präsidenten die rechten Dummköpfe, die in Stockholm eine Erdogan-Puppe aufhängten und unter antiislamischen Tiraden eine Koran-Ausgabe öffentlich verbrannten, jetzt gerade recht. Wer der Türkischen Republik und dem Glauben der Muslime keinen Respekt zolle, könne nicht mit der türkischen Unterstützung für einen NATO-Beitritt rechnen, polterte Erdogan. Hatte er bisher sein weltpolitisches Gewicht demonstriert, indem er Ankaras Zustimmung zur NATO-Erweiterung an schwedische Zugeständnisse im Vorgehen gegen PKK-nahe Kurden und Gülen-Anhänger knüpfte, so kann Erdogan nun auch auf der Klaviatur der religiösen Gefühle spielen. 

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Im säkularisierten Europa, wo antikirchliche Flegeleien und die Verhöhnung des Heiligen selbst von Kirchen oft mit traurigem Achselzucken zur Kenntnis genommen werden, übersieht man, dass Muslime auf Beleidigungen des Koran und Mohammeds weniger apathisch reagieren.

Leute, die öffentlich den Koran verbrennen, wollen Muslime wohl auch gar nicht zu mehr Toleranz erziehen, sondern gezielt in ihren Gefühlen verletzen. Das kommt dem Populisten Erdogan jetzt ganz gelegen, denn er will die anstehenden Neuwahlen auf den 14. Mai vorziehen. Spülte ihm früher das türkische Wirtschaftswunder die Wahlerfolge zu, so braucht Erdogan nun in der Wirtschaftskrise eine große Emotionalisierung. Was liegt da näher, als die nationalen und die religiösen Gefühle der Türken in Wallung zu bringen?

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Stephan Baier Muslime Recep Tayyip Erdoğan

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