Unmittelbar vor den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen hat der Wahlkampf noch an Schärfe zugelegt. Kein Wunder, geht es am 14. Mai doch darum, ob die Epoche Erdoğans zu Ende geht - oder der charismatische AKP-Führer trotz Wirtschaftskrise und Erdbeben-Zorn zu jenen Totgesagten zählt, die politisch länger leben.
Christen werden im Wahlkampf von keiner Seite umworben. Zusammen stellen die Christen aller Konfessionen, einschließlich der wachsenden Schar türkischer Konvertiten, weniger als 0,2 Prozent der Einwohner. Sie bleiben unter der Wahrnehmungsschwelle. Die Lage der Kirchen ist so fragil, dass sie es als Erfolg verbuchen, zu überleben. Dabei hat die islamisch orientierte AKP mehrfach geholfen, gerade weil in den Jahrzehnten davor der laizistische Kemalismus, der vielen Amerikanern und Europäern so sympathisch ist, den Kirchen in der Türkei das lebensnotwendige Wasser abgrub.
Von Entfaltung kann keine Rede sein
Das in Istanbul ansässige Ökumenische Patriarchat war vor der Regierungsübernahme der AKP 2002 in der Sackgasse: Ankara sah den Ökumenischen Patriarchen bloß als Pfarrer der wenigen Griechen Istanbuls, ignorierte seine Rolle für die globale Orthodoxie und untersagte ihm den angestammten Titel. Weil nur türkische Staatsbürger für die Patriarchenwahl in Frage kommen, blühten Spekulationen, wann und wohin das Patriarchat auswandern würde, sollte eine Bartholomaios-Nachfolge am Sitz des Nachfolgers des Apostels Andreas unmöglich sein. Seit Erdoğan herrscht, kann Bartholomaios seinen rechtmäßigen Titel als "Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel" führen und eine weltkirchliche Rolle spielen, wie er es im Streit um die Ukraine tat.
Auch die Nachfolge ist ermöglicht, weil Ankara türkische Pässe an mehrere orthodoxe Metropoliten ausgab. Überleben kann das Patriarchat nun, aber von Entfaltung kann keine Rede sein: Die 1971 stillgelegte Theologische Hochschule von Chalki, die für eine orthodoxe Priesterausbildung im Geist des Patriarchats unverzichtbar wäre, darf den Betrieb bis heute nicht wieder aufnehmen, obwohl die Regierung das mehrfach in Aussicht stellte. Die größte Demütigung aller Christen, insbesondere der Orthodoxen, erfolgte im Juli 2020, als die Türkei - auf Weisung Erdoğans - das ehrwürdigste Gotteshaus der orthodoxen Christenheit, die Hagia Sophia Istanbuls, zur Moschee erklärte. Bei vielen Christen am Bosporus, die Erdoğan zunächst dankbar waren, sie vor dem Kahlschlag des ideologischen Laizismus gerettet zu haben, dürfte die Umwandlung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee zu Wut und Misstrauen geführt haben.
Gnadenakt ohne Rechtsgrundlage
Den Armeniern wurden hunderte Kirchen restituiert; ihr Patriarchat wird von der Polizei gegen nationalistische Fanatiker geschützt. Die syrisch-orthodoxen Christen rechnen dem türkischen Präsidenten hoch an, dass er für sie ein staatliches Tabu brach: Erdoğan genehmigte den ersten Neubau einer christlichen Kirche seit Gründung der Türkischen Republik. In einem Land, in dem selbst die kleinste Renovierung oder Erweiterung christlicher Sakralbauten zu einem jahrelangen bürokratischen Spießrutenlauf zwingt, ist der Neubau einer Kirche für die aramäischen Christen eine Sensation.
Aber auch hier handelte es sich um einen Gnadenakt ohne Rechtsgrundlage, denn die Rechtsstellung der Kirchen in der Türkei ist seit jeher, nicht erst seit dem Regierungsantritt der AKP, fernab europäischer Standards. Daran hat Sultan Erdoğan trotz großmütiger Gesten nichts geändert. Deren unausgesprochene Botschaft lautete stets: Nicht das Recht schützt die ums Überleben ringenden christlichen Minderheiten, sondern die Gnade des Herrschers. Ein Wechsel an der Staatsspitze wird für die Kirchen in der Türkei jedoch kaum eine Verbesserung bringen. Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist Alevit; und als Angehöriger einer religiösen Minderheit muss er in einer sunnitisch dominierten Gesellschaft noch stärker auf das laizistische Korsett des kemalistischen Staates setzen.
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