Ein Erfurter Lichtblick: Am Vorabend des Martinstages stößt man in der City der Thüringer Landeshauptstadt an jeder Ecke auf Kinder mit Laternen. In Erfurt findet Jahr für Jahr vermutlich eines der größten Martin-Events in der ganzen Republik statt. Tausende von Kindern versammeln sich mit ihren Lampions zu einem ökumenischen Martinsfest auf dem Domplatz. Eine Szenerie, die nicht zu der immer noch weit verbreiteten These von einem weitestgehend entchristlichten Ostdeutschland passt. Aber wer weiß das schon im Westen? Bodo Ramelow weiß es. Und das erklärt auch, warum der erste Ministerpräsident der Linkspartei der aktuell erfolgreichste Westimport in der ostdeutschen Politik ist. Beim Elisabethempfang des Bistums Erfurt, zu dem alljährlich Vertreter der Politik und der Gesellschaft eingeladen werden, konnte man beobachten, wie Ramelow sich geschickt als Landesvater inszeniert.
Ost und West noch immer nicht zu einem Volk zusammengewachsen
In diesem Jahr fanden die zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt statt. Auch die Kirche war beteiligt, der ökumenische Gottesdienst wurde im Erfurter Dom gefeiert. Damals hatte Erfurts Bischof Ulrich Neymeyr gemahnt, die Deutschen seien immer noch „nicht wirklich“ zu einem Volk zusammengewachsen. Nun, gut einen Monat später, ist beim Elisabethempfang diese Stimmung immer noch spüren.
Die gesamtdeutsche Öffentlichkeit schaut zwar immer stärker nach Mittel- und Ostdeutschland, gerade auch nach Thüringen, aber gibt es auch ein Verständnis dafür, was die Menschen umtreibt? Die Montagsdemonstrationen machen Schlagzeilen, ebenso die Meldung von Ende September, das nach einer INSA-Umfrage die AfD zur stärksten politischen Kraft in Thüringen geworden ist.
Beschwörung des Zusammenhalts
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese schwierige politische Situation zu reagieren: Die Frustration darüber, nicht verstanden zu werden, zu kultivieren. Oder aber die Beschwörung des Zusammenhalts, des Gemeinwohls. Bodo Ramelow hat sich für die zweite, die staatstragende Variante entschieden: In seiner Rede gibt er den Landesvater, der quasi über allen Parteien steht und so manchen Zuhörer vergessen lässt, dass er Mitglied bei den Linken ist.
Ramelow ruft zur Einheit aller Demokraten auf. Findet, anders als manche seiner Genossen, deutliche Worte zum russischen Angriffskrieg, den er als „imperialen Krieg“ verurteilt. Und auch der Kirche zeigt er seine Reverenz: Kürzlich sei er in Chile gewesen und habe dort Schwester Karoline Mayer getroffen, die sich dort seit Jahrzehnten um die Armen kümmert. Ihr habe er eine Plakette der heiligen Elisabeth mitgebracht.
Spezifisch ostdeutsches Selbstbewusstsein
Ramelow weiß aber auch, das Bedürfnis seiner Zuhörer nach einem spezifischen ostdeutschen Selbstbewusstsein anzusprechen. Und das macht er an der ökumenischen Martinsfeier fest. Seit 50 Jahren schon fände sie in Erfurt statt. Freilich suggeriert er damit auch, dass das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat in der DDR gar nicht so schlecht gewesen sei.
Hier war später von einigen Teilnehmern des Empfangs deutlich Unmut zu vernehmen, haben sie doch ganz andere Erfahrungen mit dem DDR-Regime gemacht. Doch Bodo Ramelow scheint strategisch auf seine harmonische Erzählung vom großen Zusammenhalt zu setzen. Ob sie aufgeht, zeigen die nächsten Landtagswahlen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.