Dieser Schritt hat Freunde wie Gegner überrascht. Der argentinische Präsident Mauricio Macri, dessen Regierung als liberal-konservativ beschrieben wird, hat entschieden, eine neue Debatte über die Legalisierung von Abtreibungen zu eröffnen. „Ich bin für das Leben“, sagte er. „Aber ich bin auch für eine reife und verantwortungsbewusste Debatte, die wir als Argentinier führen sollten. Daher sehe ich es als positiv an, dass das Thema in diesem Jahr auf die parlamentarische Agenda kommt“, erklärte Macri. Zuvor hatten Anfang März 71 Parlamentarier sowohl von der linken Opposition als auch einige aus dem Regierungslager einen Gesetzesvorstoß für eine Abtreibungslegalisierung unterschrieben. Demnach sollen Frauen eine Schwangerschaft innerhalb der ersten 14 Wochen abbrechen dürfen, staatliche und private Kliniken sollen die Abtreibung kostenfrei vornehmen müssen. Bislang ist nach argentinischem Recht ein Schwangerschaftsabbruch nur dann legal, wenn andernfalls das Leben der Mutter in Gefahr ist oder wenn sie Opfer einer Vergewaltigung war.
Macris Äußerung fällt in eine Zeit der Proteste gegen seine Wirtschaftsreformen. Erst wenige Tage zuvor hatten Lehrer und Gewerkschafter gegen eine Rentenreform und andere Maßnahmen demonstriert, mit denen Macri die Staatsfinanzen sanieren und die zweistelligen Inflationsraten bremsen will. In den Jahren vor seinem Amtsantritt Ende 2015 hatte sich die wirtschaftliche Lage Argentiniens in der Regierungszeit des linkspopulistischen Kirchner-Ehepaars drastisch verschlechtert. Macris wirtschaftsliberaler Kurs ist umstritten im Lande. Sein Manöver in der Abtreibungsdebatte könnte dazu dienen, Druck von ihm zu nehmen. Vor neun Jahren gab er als Regierungschef der Hauptstadt Buenos Aires in einer ähnlich moralisch umstrittenen Frage grünes Licht für ein Gerichtsurteil, das die Homo-„Ehe“ in der Stadtregion erlaubte. Drei Jahre später wollte er erstmals legale Abtreibungen in Buenos Aires zulassen. Doch nach Protesten und auf Druck des damaligen Erzbischofs Jorge Bergoglio, des heutigen Papstes Franziskus, zog Macri zurück und legte ein Veto gegen die Freigabe der Abtreibung ein. Nicht nur wegen dieser Sache gibt es eine angespannte Beziehung zwischen Macri und Franziskus.
Heute unterstützt der argentinische Papst die Proteste gegen Macris Wirtschaftsreformen. Franziskus segnete und unterschrieb grüne T-Shirts der oppositionellen Gewerkschaftsbewegung. Die Abtreibungsfrage spaltet jetzt die Gesellschaft auf andere Weise. „Der Riss geht sowohl durch die Regierung als auch durch die Oppositionsparteien“, erklärt der Politikwissenschaftler Rosendo Fraga. „Aber die Debatte ist nützlich für die Regierung, weil sie damit den Streit über die Inflation und die Versorgungskosten, Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften und Korruptionsvorwürfe hinter sich lassen kann“, ist der Wissenschaftler überzeugt.
Die argentinische Kirche hat sich deutlich gegen den Abtreibungsvorstoß positioniert. Ein Dutzend Bischöfe und Erzbischöfe hat ein Dokument mit dem Titel „Das Leben: Geschenk und Würde“ veröffentlicht. Sie fordern, das Leben der unschuldigen ungeborenen Kinder zu schätzen. Eine Notlage dürfe niemals damit „gelöst“ werden, indem man ein menschliches Leben auslösche. „Man muss immer versuchen, alle zu retten.“ Die Bischöfe haben auch eine Stelle aus einer päpstlichen Predigt gegen die „Kultur des Wegwerfens“ des menschlichen Lebens eingefügt.
Für den 25. März rufen sie zu einem „Marsch für das Leben“ auf, der unter dem Motto steht: „Das menschliche Leben ist schön und wir müssen darauf aufpassen“. Ende Februar hatten in Buenos Aires Tausende für legale Abtreibungen demonstriert. Sie verweisen unter anderem darauf, dass bei illegalen Abtreibungen zahlreiche Frauen gestorben seien. Es gibt Schätzungen, dass trotz des Verbots in Argentinien hunderttausende Abtreibungen jährlich durchgeführt werden.
Ob das Legalisierungsgesetz durch das Parlament kommt, ist ungewiss. Noch fehlen 58 Unterstützer, damit es überhaupt behandelt wird. Im Senat könnte die konservative Mehrheit es stoppen. Aus der „Casa Rosada“, dem Sitz des Präsidenten, verlautete, dass Macri das Gesetz im Fall einer Mehrheit im Kongress nicht per Veto aufhalten würde.
Der Streit über die Abtreibung in Argentinien wie auch über die Homo-„Ehe“ in ganz Lateinamerika zeigt, wie auf dem weiterhin stark katholisch geprägten Halbkontinent in moralisch-ethischen Fragen traditionell-konservative mit emanzipatorisch-progressiven Ansätzen ringen. In Uruguay und Kuba sowie Puerto Rico gilt eine 12-Wochen-Fristenregelung für Abtreibungen. In El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti und der Dominikanischen Republik steht jegliche Form von Abtreibung weiterhin unter Strafe und wird mit Gefängnisstrafen geahndet. Andere Länder haben die Abtreibungsgesetze jüngst etwas gelockert. In Chile wurde sie unter der sozialistischen Präsidentin Michele Bachelet erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, bei einer Vergewaltigung oder wenn der Fötus tödlich erkrankt ist. Sonst bleibt Abtreibung ungesetzlich.