Nicht jede Debatte zur Jahresmitte ist schon des Zeitpunkts wegen ein Fall für das Sommerloch oder das gleichnamige Theater. Die gegenwärtige Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder die Einführung einer Dienstpflicht für alle ploppt jetzt auf, weil die Aussetzung der Wehrpflicht zum Juli 2011 insbesondere aus zwei, ziemlich durchsichtigen Gründen vollzogen worden ist: einmal, um den seinerzeitigen Verteidigungsminister zu Guttenberg aus den eigenen Reihen nicht zu desavouieren, da er die Fraktion mit seiner im Ausland verkündeten Entscheidung quasi vor vollendete Tatsachen gestellt hatte; zum Anderen konnte so der FDP ermöglicht werden, die Umsetzung eines Wahlversprechens verkünden zu können. Nicht wenige Koalitionäre stimmten mit der Faust in der Tasche zu. Ein stimmiges Ersatzkonzept fehlt bis heute.
Bundeswehr fehlen Wehrdienstleistende
Die Skeptiker von damals dürfen sich heute weitgehend bestätigt fühlen. Zählte die Bundeswehr 2009 noch 37 000 Grundwehrdienstleistende und 25 000 freiwillig Wehrdienstleistende (also Wehrpflichtige, die ihren Dienst freiwillig verlängerten), standen 2018 gerade noch knapp über 8 500 freiwillig Wehrdienstleistende in den Reihen der Truppe. Gleichzeitig sank die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten fast kontinuierlich – und dies bei gleichzeitig durch Auslandseinsätze steigendem Aufgabendruck für die Bundeswehr. An diesem Trend änderten weder die Personalstrukturmodelle 2010 und 2015 noch die von Ursula von der Leyen angekündigte „Trendwende Personal“ viel. Besser lief es bei der Neuregelung für den früheren Zivildienst. Gab es 2010 noch knapp 78 400 „Zivis“, schrieben sich in den letzten Jahren immerhin rund 60 000 Menschen pro Jahr für den Jugendfreiwilligendienst ein; und trotz des zusätzlichen Angebots im Bundesfreiwilligendienst blieben Bewerber ohne Stelle. Zufriedenstellend ist die Entwicklung nach Aussetzung der Wehrpflicht weder auf dem militärischen noch auf dem zivilen Sektor, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Auf einen kurzen, vereinfachten Nenner gebracht: bei der Bundeswehr gibt es mehr Stellen als Bewerber, in den Freiwilligendiensten ist es umgekehrt.
Die Diskussion um die personelle Zukunft von Streitkräften und Freiwilligendiensten ist durchaus berechtigt. Weder die Forderung nach Rückkehr zur Wehrpflicht alten Zuschnitts noch der Vorschlag zu einem allgemeinen Dienstjahr zeigen bislang aber einen gangbaren Weg auf. Erste Schwierigkeit – das Grundgesetz. Artikel 12a) stellt unmissverständlich auf die Streitkräfte, den Bundesgrenzschutz oder einen Zivilschutzverband ab. Darunter ließe sich ein Dienst auf den Sektoren, die die Freiwilligendienste heute abdecken, sicher nicht darstellen, zumal der genannte Artikel ausdrücklich nur für Personen männlichen Geschlechts gilt. In Absatz 2 des Artikels 12a) ist dann der Ersatzdienst geregelt. Würde die Wehrpflicht alten Zuschnitts also wieder eingeführt, stellte sich erneut das Problem der Wehrgerechtigkeit, das schon die bisherige Regelung rechtlich auf tönerne Füße stellte. Wenn, wie zuletzt vor Aussetzung der Wehrpflicht, etwa ein Drittel zur Bundeswehr geht, ein Drittel Zivildienst leistet, ein Drittel eines männlichen Jahrgangs aber weder das eine noch das andere tut, kann von Wehrgerechtigkeit wohl nicht die Rede sein. Um dieses Problem auszuschließen, müsste folglich das Stellenangebot zunächst einmal soweit ausgebaut werden, dass mindestens rechnerisch ein Jahrgang auch komplett in einem der beiden Dienste abgebildet werden kann. Ob die Bundeswehr aber kurzfristig dazu in der Lage sei, sieht der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels zu Recht kritisch.
Ungeachtet dessen erbrachte die Wehrpflicht für die Bundeswehr den unschätzbaren Vorteil, dass sich ihr Personalbestand quasi automatisch aus der Mitte der Gesellschaft heraus erneuerte – eine Lehre, die die Eltern des Grundgesetzes aus den historischen Erfahrungen mit der Wehrmacht zogen. Die Bundeswehr verstand so den „Staatsbürger in Uniform“ und baute hierauf das Konzept der „Inneren Führung“. Eine reine Berufsarmee kann dies zwar auch abbilden; die Nachwuchsgewinnung hängt aber hier auch von anderen, externen Faktoren wie dem Arbeitsmarkt ab, die für die Personalstruktur der Armee erst in zweiter Linie relevant sind.
Gesellschaftspolitisch besteht eigentlich Konsens, es macht Sinn, wenn junge Leute einen Dienst an der Gemeinschaft leisten, auf welchem Sektor auch immer. Ein solcher Dienst wirkt persönlichkeitsbildend, er stärkt die Sozialkompetenz der Teilnehmer und macht nicht zuletzt deutlich, dass Staat und Gesellschaft nur dann funktionieren, wenn die Bürger auch etwas einbringen anstatt von dort nur abzurufen. Aber: Die Verpflichtung zu einem solchen Dienst hat verfassungsrechtlich sehr hohe Hürden, die dank der historischen Erfahrung mit dem Reichsarbeitsdienst in der NS-Zeit sehr bewusst aufgestellt wurden. Auch wenn sich Deutschland mittlerweile fast sieben Dezennien in der Demokratie bewährt hat, ist es fraglich, ob das Bundesverfassungsgericht eine Dienstverpflichtung für junge Leute akzeptieren würde. Sich in dieser Frage in Karlsruhe eine blutige Nase zu holen, ist politisch riskant; dafür ist das Thema zu wichtig.
Dienst sollte auch Ausbildungsmodule haben
Wie also könnte der Ausweg aussehen? Drehen wir die Frage um: Nicht der Staat will seine Bürger zu einem Dienst verpflichten, sondern der Staat verpflichtet sich, jungen Männern und Frauen ein Angebot zu einem freiwilligen Dienst zu unterbreiten. Dieser Dienst kann auf dem militärischen oder zivilen Sektor erbracht werden. Es wäre auch zu überlegen, ob bei potenziellen Trägern, etwa Jugendverbänden, ein zu erschließendes Reservoir schlummert. Selbstredend hat der Dienst primär Inhalte, die zum Dienstgeber im Bezug stehen; sie sind also militärischer, sozialer, kultureller oder ökologischer Natur. Daneben muss er zwingend Ausbildungsmodule enthalten, die bei der Bundeswehr zum Beispiel handwerklicher Art sein können und die anschließend entweder beim Dienstgeber selbst oder generell auf dem Arbeitsmarkt eingebracht werden können – also eine Anrechnung dieser Module sowohl in der dualen wie der akademischen Ausbildung. Natürlich wäre es sinnvoll, wenn der Gesetzgeber für einen solchen Dienst einen einheitlichen, niedrigschwelligen Zugang ermöglicht und die Förderung sowohl der Dienstleistenden wie der Dienstgebenden vereinheitlicht. Heute etwa ressortieren klassische Jugendfreiwilligendienste wie FSJ und FÖJ im Unterschied etwa zu „weltwärts“ nicht nur in unterschiedlichen Bundesministerien, sie stehen durch unterschiedliche Förderung auch in Konkurrenz zueinander. Idealiter denkt der Gesetzgeber zusätzlich nach, wie er den Dienst durch Vergünstigungen noch attraktiver machen kann. So etwas verlangt gründliche Vorbereitung. Der Dienst an der Gesellschaft ist aber für die Gesellschaft selbst so wichtig, dass sich ihre maßgeblichen Akteure in einer konzertierten Aktion um seine Verbesserung kümmern sollten.
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