Bevor wir uns für oder gegen die Wehrpflicht entscheiden, müssen wir zwei Fragen beantworten: Haben wir in Deutschland den Willen, uns gegen einen Aggressor verteidigen zu können (Wehrwille)? Auf welche Weise sind wir ernsthaft in der Lage, unser Land zu verteidigen und einen ausreichend großen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten (Wehrfähigkeit)? Wenn wir – so hoffe ich – die erste Frage mit „ja“ beantworten, gibt es für die zweite Frage nur zwei Modelle: Eine immens große Berufsarmee von ca. 600.000 aktiven Soldaten oder eine Kombination aus Berufsarmee und der Aufwuchsfähigkeit durch eine große Zahl an Reservistinnen und Reservisten. Allen ist klar, dass wir das Personal für eine reine Berufsarmee in der Größe, dass sie Landes- und Bündnisverteidigung ernsthaft leisten kann, nicht gewinnen und eine solche Armee auch nicht bezahlen können.
Einsatzverpflichtungen kaum zu erfüllen
Die derzeitige Berufsarmee ist kaum in der Lage, ihre Einsatzverpflichtungen zu erfüllen. Unstreitig ist auch, dass eine Berufsarmee mit gleichen Fähigkeiten in der Landes- und Bündnisverteidigung erheblich mehr kostet als eine kleinere Berufsarmee mit der Aufwuchsfähigkeit durch Reservisten im Fall des Falles. Das Ziel muss also eine exzellent ausgerüstete aktive Truppe sein und zugleich eine schnell mobilisierbare Reserve im Verhältnis von mindestens 1:3. Das Argument, in heutiger Zeit würden nur die absoluten Spezialisten beim Militär benötigt, deren Ausbildung mehrere Jahre dauert, war und ist falsch. Dies war die Idee kleiner und „feiner“ Auslandseinsätze und hat sich da schon als falsch erwiesen.
Am Beispiel der Ukraine sehen wir, dass es einer großen Zahl an Soldatinnen und Soldaten bedarf und einer Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit über lange Zeit. Es braucht Fahrer, die Munition oder Verwundete transportieren, es braucht Sicherungssoldaten, die Flughäfen, Marinestützpunkte oder Munitionsdepots sichern, der Transport durch das eigene Land zur kämpfenden Truppe muss gewährleisten werden und zu guter Letzt müssen zum Beispiel auch Sabotageakte im eigenen Land verhindert werden. Alle diese Aufgaben, die im Krieg auf das Militär zukommen und die wir gerade in der Ukraine in der Landesverteidigung sehen, fordert eine erhebliche Aufwuchsfähigkeit der Truppe. Dies geht nur mit der Wehrpflicht.
Es gibt wieder ein „Warum“
Für junge Menschen ist durch die Refokussierung auch die Sinnhaftigkeit einer Wehrpflicht wieder gegeben. Es geht nämlich nicht um Einsätze überall auf der Welt, bei denen das „Warum“ oft schwer begründet werden konnte, sondern um die Verteidigung der Heimat im Verteidigungsfall. Ja, die Wehrpflicht kostet Geld. Doch wenn wir uns bei der Frage, ob wir verteidigungsfähig sein wollen, für „ja“ entschieden haben, ist sie die günstigere und zivilere Variante, denn sie bindet neben dem Bürger in Uniform den Bürger mit Uniform ein – nämlich die Reservistinnen und den Reservisten. Und ja, wir müssen wieder umfassend Strukturen aufbauen, aber nicht als Selbstzweck für die Wehrpflicht, sondern für unsere Verteidigungsfähigkeit.
Um durchhaltefähig (resilient) zu sein und um eine echte Abschreckung (Deterrence) gegen potentielle Aggressoren aufzubauen, muss die Bundeswehr die personelle Stärke, die moderne Ausrüstung und die Infrastruktur haben, die sie in die Lage versetzt, Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten. Genauso ist es – sehr weise – in unserem Grundgesetz angelegt: Der erhebliche Grundrechtseingriff der Wehrpflicht rechtfertigt sich nur dadurch, dass die Landesverteidigung nicht ohne Wehrpflicht möglich ist.
Blockade in den Köpfen lösen
Der Aufbau entsprechender Strukturen ist auch möglich und kann klug umgesetzt auch einen erheblichen zivilen Nutzen bringen. Die Blockade ist eher in unseren Köpfen, denn 30 Jahre haben wir unter dem Begriff Friedensdividende alles abgebaut, was mit Verteidigung und Zivil- und Katastrophenschutz zu tun hat. Jetzt geht es darum, dies wieder aufzubauen und zwar mit den Bürgerinnen und Bürgern unseren Landes als gesamtgesellschaftliche Aufgabe – und genau das ist die Wehrpflicht.
Der Autor ist Präsident des Verbandes der Reservisten der Bundeswehr, Von 2009 bis 2021 gehörte er für die CDU dem Bundestag an.
Den Auftakt zu der Debatte machte vor zwei Wochen Alexander Müller, verteidigungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.
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