Die Aufarbeitung des Corona-Managements von Bund und Ländern nimmt Fahrt auf. Erst widmete die Wochenzeitung „Die Zeit“ ihre Titelgeschichte „unseren Corona-Fehlern“. Dann bat das Magazin „Der Spiegel“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und den Virologen Christian Drosten zum Doppelinterview. Vergangenen Donnerstag schließlich musste sich der SPD-Politiker in einer sehr sehenswerten Folge der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ gegen Vorwürfe der Journalisten Heribert Prantl und Markus Grill sowie der Ärztin Agnes Genewein zur Wehr setzen. Und als wäre das noch nicht genug, fordert nun auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) eine „rückhaltlose“ Aufarbeitung der Pandemie-Bewältigung. Einen Tweet Lauterbachs abwandelnd, der bei Lanz gezeigt wurde, stichelte der FDP-Grande: „Einen ehrenvollen Rücktritt würde Karl Lauterbach niemand vorwerfen.“
Es geht auch um die Deutungshoheit
Natürlich geht es bei allen dem nicht ausschließlich um die Wahrheit, die auch nach drei Corona-Jahren noch niemand in allen Einzelheiten kennt. Auch um Erkenntnisgewinn, der für den Umgang mit künftigen Pandemien wichtig wäre, dürfte es nicht allein gehen. Zumindest nicht jedem.
Für Politiker und Wissenschaftler geht es auch darum, die Deutungshoheit über die Coronaschutzmaßnahmen nicht zu verlieren oder, wie Drosten es gegenüber dem „Spiegel“ formulierte, eine „Umdeutung“ zu verhindern. Eine, die sie für Entscheidungen, die sich im Nachhinein als Fehler herausgestellt haben, verantwortlich macht.
Mag sein, dass die notwendige Aufarbeitung dadurch mühsamer wird und schleppender verläuft. Doch entziehen kann sich ihr am Ende niemand, schon gar nicht jene, denen es um den Erhalt der Deutungshoheit geht. Sie müssen Vorwürfe zu entkräften suchen, Fakten (nach-)liefern und Entscheidungsfindungen transparent machen. Und so wird nach und nach das, was alle Akteure eingestehen müssen, immer größer und der verbleibende Dissens immer kleiner werden.
Inzwischen wird von niemandem mehr bestritten, dass Kinder und Jugendliche zu den großen Verlierern der Pandemie-Politik zweier Bundesregierungen und der Länder gehören. Vor allem deshalb, weil das Ausmaß der durch die Schutzmaßnahmen hervorgerufenen sekundären Krankheitslast, bei den handelnden Akteuren viel zu wenig Beachtung gefunden hatte und daher auch nicht in Beziehung zu der primären Krankheitslast gesetzt wurde, die das Virus verursacht. Mag Lauterbach noch den Ländern den Schwarzen Peter zuschieben, diese den Wissenschaftlern und diese, wie Drosten, Teilen der Medien – am Ende wird niemand darum herumkommen, Verantwortung für seine eigenen Fehleinschätzungen zu übernehmen.
Alles muss auf den Prüfstand
Was für die Schließung der Schulen gilt, deren katastrophale Folgen Kinder- und Jugendpsychiater jeden Tag zu sehen bekommen, muss auch für anderes gelten. Impfpflicht, Testregime, Maskenpflicht, Datenmanagement – alles muss auf den Prüfstand, nichts darf ausgespart bleiben. Am Ende müssen Sinnhaftigkeit oder auch „Schwachsinn“ (Lauterbach bei Lanz über das Joggen mit Maske) jeder einzelnen Maßnahme offenbar werden.
Mit ihrer Corona-Politik haben Bund und Länder, Land und Leute gespalten. Nun müssen sie wieder zusammenfinden. Ohne eine ergebnisoffene Aufarbeitung der Corona-Jahre wird das nicht gehen.
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