Berlin

Die SPD versucht die Wende

Die Krise der SPD hat drei Ursachen: Sie hat die Bindung zur Industriearbeiterschaft verloren, versteht die Sorgen ihrer Klientel nicht mehr und es mangelt an Solidarität.
Die Krise der SPD
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Würde er zu dem ganzen Verfahren seinen Segen geben? SPD-Übervater Willy Brandt ist mittlerweile zum Denkmal geworden.

Der Zeigerstand auf August Bebels goldener Taschenuhr: Fünf vor zwölf. Der Tradition nach bekommt jeder neue Parteivorsitzende der Sozialdemokraten diese Uhr des Ur-Sozis. Ein Zeichen der Tradition, vor allem aber auch der Symbolik, die dieses Amt umgibt. Oder besser vielleicht umgab. „Das schönste Amt neben Papst“, sagte Franz Müntefering nach seiner Wahl. Das klang schon 2008 für viele recht vermessen. Aber immerhin stand diese Aussage für ein gewisses sozialdemokratisches Standesgefühl, das sich daraus speiste, in der Geschichte immer auf der richtigen Seite gestanden zu haben: Von Bebel über Otto Wels' Rede gegen das Ermächtigungsgesetz bis hin zu Brandts Kniefall in Warschau. Aber in der Politik geht es eben vor allem um die Zukunft.

Alle Kandidaten wollen definieren, was Sozialdemokratie heute bedeutet

Elf Kandidaturen liegen nun vor, davon sind sieben als Paar angetreten. Es gibt Vertreter aus allen Parteiflügeln und aus allen Ebenen, von der Oberbürgermeisterin bis hin zum Bundesminister. Es ist auch allen Kandidaten anzumerken, dass sie sich abmühen zu definieren, was denn sozialdemokratisch heute eigentlich noch heiße. Doch eine zündende Antwort hat bisher noch niemand geliefert. Und sie ist auch nicht zu erwarten. Vor welchen Herausforderungen sie stehen, lässt sich an drei Aspekten deutlich machen mit Blick auf ein Buch, ein Verfahren und eine Liste.

Das Buch: „Jenseits von Kohle und Stahl“, heißt es und der Trierer Sozialhistoriker Lutz Raphael hat es geschrieben. Sein Thema: Wie der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte die Gesellschaft verändert hat. Stephan Laurin hat kürzlich auf dem Blog „Ruhrbarone“ darauf hingewiesen, wie das Buch quasi als Kommentar zur Krise in der SPD zu lesen wäre. In dem Blog wird die Entwicklung des Ruhrgebietes beobachtet, also genau jene Region, die lange als das Stammland der SPD gelten konnte. Der Journalist Laurin kennt sich also aus. Seine interessante Analyse: Der Strukturwandel, von dem Raphael schreibt, habe auch das politische Bewusstsein der Parteien verändert. Die industrielle Welt und die Menschen, die in ihr arbeiteten, seien den politischen Protagonisten fremd geworden. Und das sehe man eben besonders an der SPD.

Lange Zeit wurde der Entfremdungsprozess als historischer Erfolg der SPD verstanden

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Die Pointe dabei: Genau dieser Entfremdungsprozess ist lange Zeit als der historische Erfolg der Sozialdemokraten verstanden worden. In diesem Jahr jährt sich zum 60. Mal die Verabschiedung des Godesberger Programms. Es gilt heute als die große Zäsur in der SPD-Geschichte. Mit diesem Programm habe die Partei endgültig dem Klassenkampf Adieu gesagt, dem Marxismus abgeschworen und sei in der Bundesrepublik angekommen. Und auf den ersten Blick war dieser Schritt auch machttaktisch ein Erfolg. Gut ein Jahrzehnt später eroberte Willy Brandt das Kanzleramt. Aus der Arbeiterpartei SPD war die alternative Regierungspartei geworden. Keine Frage, die braucht eine funktionierende Demokratie.

Aber dies hatte auch zur Folge, dass die SPD ihre programmatische Agenda erweitern musste. Neben den Themen, die die Industriearbeiterschaft umtrieben, wurden nun auch andere Bereiche besetzt: Außen- und Friedenspolitik (Neue Ostpolitik) und eben eine Reformierung der Gesellschaft vornehmlich nach liberalen Grundsätzen. Etwas zugespitzt: Plötzlich ging es nicht nur um Lohnerhöhung und Weihnachtsgeld, sondern auch um Menschenrechte. Bei diesem Mix ist es geblieben. Damals war die Industriearbeiterschaft noch ein fest strukturiertes Milieu, das aus Tradition bei der SPD ihr Kreuz machte. Aber heute ist es zerbrochen – und die Reste, die es ja immer noch gibt, werden vernachlässigt. Diejenigen, die aber einst wegen der Reformagenda zur SPD gestoßen sind, finden ihre Wünsche längt bei den Grünen besser erfüllt.

Sarrazin sieht sich als Sozialdemokraten

Die Entfremdung zwischen Partei und Stammwählerschaft zeigt sich auch an einem langwierigen Verfahren: Thilo Sarrazin will in der SPD bleiben, die Partei will ihn draußen haben, besser gesagt, die Parteigremien, die darüber entscheiden. Sarrazin selbst jedenfalls sieht sich weiterhin als Sozialdemokraten. Und ob die Basis genau den gleichen Blick wie die Parteiführung auf diese Personalie hat, ist zumindest zweifelhaft. Denn die Probleme, die er rund um Integration benennt und die Defizite beklagt, sind genau die Fragen, mit denen etwa die Industriearbeiter in ihrem Alltag konfrontiert werden.

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Zudem: Sarrazin nutzt in seinen Büchern klassische sozialdemokratischen Argumentationsmuster. Da ist vor allem das hohe Lied auf den Bildungsaufstieg, das er singt. Bildung ist für ihn der Schlüssel zur gesellschaftlichen Integration. Anders als seine Genossen stellt er aber eben auch Thesen auf, warum manche gesellschaftliche Gruppen – er glaubt in der muslimischen Minderheit eine solche zu erkennen – diesen Bildungsaufstieg nicht attraktiv finden. Dass es der SPD–Parteiführung nicht möglich war, eine argumentative Brücke zu Sarrazin zu schlagen, ist symptomatisch für die Kommunikationsprobleme in der Partei.

Es mangelt an einem Grundwert: Solidarität

Hier zeigt sich der Mangel an einem Grundwert, der eigentlich in keiner ersten Mai-Rede fehlt, aber offenbar in der Praxis weniger befolgt wird: die Solidarität. Jüngstes Beispiel ist eine Liste: 156 Genossen haben kürzlich einen Appell unterschrieben, der zur Gründung des parteinternen Netzwerkes „SPD pur“ aufgerufen hat Manche befürchten schon, dass diese Gruppe sich zu einer Art WerteUnion der SPD entwickeln könnte. Das Bezeichnende an dieser Entwicklung: Zu den Unterzeichnern gehört auch der ehemalige Vorsitzende Sigmar Gabriel. Wenn die neue Gruppe „SPD pur“ will, dann sagt sie damit auch, dass aktuell wohl keine pure SPD-Politik betrieben wird. Sigmar Gabriel hat an den Gedanken, inwieweit er vielleicht zu dieser Entwicklung einen Beitrag geleistet haben könnte, keine Kraft verschwendet. Auch eine Form der Solidarität. Der Zeiger der Bebel-Uhr rückt derweil der Zwölf immer näher.

Hintergrund:
Die Bewerbungsfrist für die Nachfolge der zurückgetretenen SPD-Chefin Andrea Nahles läuft noch bis 1. September. Die neue Parteispitze soll dann in einer Mitgliederbefragung faktisch bestimmt und auf einem Parteitag Anfang Dezember gewählt werden. Der Wettbewerb um den Parteivorsitz hat in den vergangenen Tagen deutlich angezogen. Inzwischen bewerben sich sieben Duos und drei einzelne Kandidaten. Einzig Europa-Staatsminister Michael Roth und die ehemalige nordrhein-westfälische Familienministerin Christina Kampmann sowie nach eigenen Angaben auch die Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach und Nina Scheer haben bisher die für eine Kandidatur nötige Unterstützung aus der Partei. Zudem werden nach Angaben aus niedersächsischen SPD-Kreisen alle vier dortigen Parteibezirke Landesinnenminister Boris Pistorius und die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping als Doppelspitze unterstützen.
(DT/dpa)

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