Es ist schwierig in Japan, die Gefahr zu vermitteln, die von den Kulten der etwa 185.000 Sekten im Land ausgehen kann; denn die Gegenwart der Sekten gehört zum Alltag, jedes Jahr entstehen etwa 100 neue, in denen Haltlose nach Orientierung suchen. Doch Artikel 20 der Verfassung garantiert die Religionsfreiheit – alle religiösen Gruppen müssen gleich behandelt werden. Der Giftgasanschlag der AUM-Sekte 1995 in der Tokioter U-Bahn hätte eine Warnung für künftige Morde sein können. Dass nun die Spuren des Mordes an Premierminister Shinzo Abe (LDP) vom 8. Juli zu einer Sekte, der „Vereinigungskirche“, führen, war jederzeit denkbar. Der 41-jährige Täter Yamagami sagte nach seiner Verhaftung: „Ich nehme es der Gruppe übel, weil meine Mutter deswegen bankrott ging.“
Der Name führt in die Irre
Seit dem Mord an Abe läuft in Japan die öffentliche Diskussion um die „Vereinigungskirche“, die 1954 Reverent Sun Myung Moon als „Holy Spirit Association for the Unification of World Christianity“ in Südkorea gegründet hat. Abe hatte in einer von der „Vereinigungskirche“ bezahlten Rede am 12. September 2021 der Witwe Moons für die Fortführung der Organisation gedankt und deren Versuch der Lösung von Konflikten in der Welt.
Inzwischen haben sich elf Abgeordnete aus der Partei Abes dazu bekannt, Verbindungen zu der Sekte zu haben, darunter vier Staatsminister. Ministerpräsident Kishida bat diese, die Beziehungen zu überdenken. Der japanische Zweig der Sekte heißt seit 1996 „Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung“. Doch der Name führt in die Irre. So sind gerade die Behörden der Präfektur Osaka vor die Frage gestellt, ob es rechtens ist, entlang einer Straße Schilder aufzustellen, auf denen auf Reinigungsarbeiten der Sekte hingewiesen wird; damit werde die religiöse Vereinigung offiziell anerkannt.
Erpressung, Psychoterror, Kriminalität
Doch es gibt weitaus Gravierenderes. Die japanische Zeitung „Mainichi Shimbun“ spricht von Erpressung der Gläubigen zu hohen Geldsummen – „sprirituelle Verkäufe“ sollen die Sektenkasse auffüllen. Gegenstände wie Gläser oder Krüge sollen in Online-Auktionen oder die Flohmarkt-App von Mercari Inc. erstanden werden. Ende Juli wurde ein Set aus einer zweistöckigen Pagode und zwei Krügen für umgerechnet 6.000 Euro verkauft, ein Krug mit einem Drachen kostete umgerechnet etwa 2.000 Euro. Sogar die gebrauchten Smartphones von Führungskräften der Sekte werden auf der Internetseite zum Kauf angeboten mit der Empfehlung, die Smartphones in der Tasche zu tragen, um dann göttliche Hilfe zu bekommen.
Mit finanziellen Zuwendungen an die Sekte war auch die Mutter des Mörders von Shinzo Abo engagiert. Sie hatte nach Angaben der Zeitung „Yomiuri Shimbun“ umgerechnet mehr als 700.000 Euro an die religiöse Organisation gespendet und damit ihre Familie ruiniert. In japanischen Internetforen werfen User der Vereinigung vor, betrügerisch zu sein; in Deutschland hat der Bundesgerichtshof 1983 entschieden, dass die Mun-Sekte als kriminelle Vereinigung bezeichnet werden darf und dass sie Psychoterror ausübe. Nach Schätzungen hat die „Vereinigungskirche“ weltweit etwa 200.000 Mitglieder.
Die Sekte hat viele christliche Motive aufgenommen und sie mit asiatischen vermischt, etwa mit dem Weltbild von Yin und Yang. Der japanische Zweig vertritt die Ansicht, dass Korea von Adam abstamme und Japan von Eva. Beide Länder müssten daher zusammengeführt werden, was sich auch mit der Lehre der „Vereinigungskirche“ über die Wiederherstellung der Welt in den Zustand vor dem Sündenfall deckt, der als historisches Ereignis verstanden wird. Sektengründer Moon hatte sich als zweiter Messias verstanden, der die Aufgabe Jesu zu vollenden habe.
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