Berlin

Die RAF – eine Bilanz

Vor 50 Jahren traten die Terroristen zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Sie wollten den Staat als „faschistisch“ diffamieren.
Hanns-Martin Schleyer
Foto: dpa | Mittlerweile ein Dokument der Erinnerung an die RAF-Verbrechen und des Gedenkens an die Opfer: Der entführte, später ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer.

Der 14. Mai 1970 gilt als Gründungsdatum der „Roten Armee Fraktion“ (RAF). Gewaltsam befreiten damals unter anderen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin den Häftling Andreas Baader während eines Freigangs. 50 Jahre danach beschäftigt die RAF weiterhin Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Das auch deshalb, weil die RAF-Mordserie bis heute partiell unaufgeklärt ist, darunter die Attentate auf Ernst Zimmermann 1985, Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler 1986, Gerold von Braunmühl 1986, Alfred Herrhausen 1989 und Detlev Karsten Rohwedder 1991.

Täter wurden zu Opfern stilisiert

Das Abtauchen einer kleinen Gruppe junger Leute in den Untergrund, ihr terroristischer „Kampf“ gegen die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft und ihre offenkundige Bereitschaft, sowohl zu morden als auch selbst zu sterben, verströmen immer noch eine „morbide Faszination“ (Petra Terhoeven). Das umso mehr, weil die meisten RAF-Terroristen, insbesondere RAF-Führungspersonen, nicht als abgehängte Außenseiter aufgewachsen waren, sondern oft aus gehobenen, religiös und bildungsbürgerlich geprägten Milieus stammten.

Zu den zentralen Kennzeichen der RAF gehörte es, RAF-Täter propagandistisch zu Opfern zu stilisieren und RAF-Opfer als Täter zu animalisieren – etwa  als „Kapitalisten-, Bullen- und Nazischweine“. Um ihre Morde als „Notwehr“ zu legitimieren, hatte sie bereits 1971 in ihrem „Konzept Stadtguerilla“ erklärt: „Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen.“ Später befand sie in ihrer Auflösungserklärung 1998: „Wir haben gewalttätige Verhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet.“

Polizisten wurden entmenschlicht

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Im „Kampf“ gegen den angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ hatte Meinhof bereits im Juni 1970 den Einsatz von Schusswaffen gegen Polizeibeamte als Vertreter des „faschistischen Repressionsstaates“ propagiert, der in seiner realen Ausrichtung weit entfernt vom NS-Unrechtsstaat war (und ist). Das gilt (und galt) auch nach dem parlamentarischen Beschluss der Notstands- und der Antiterrorgesetze, die aus RAF-Sicht eine Neuauflage von NS-Gesetzen bedeuteten, womit die RAF die Hitler-Diktatur verharmloste. In ihrem „Schießbefehl“ hatte die RAF-Propagandachefin appelliert: „Wir sagen natürlich...der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch... und natürlich kann geschossen werden!“ Denn Aufgabe der „Bullen“ sei es, die „Verbrechen des Systems zu schützen“. Tatsächlich war die Mehrzahl der RAF-Mitglieder bei ihrer Verhaftung mit geladenen und entsicherten Pistolen bewaffnet, darunter 1982 Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz bei ihrer Festnahme am RAF-Zentraldepot nahe Heusenstamm und Christian Klar – äußerlich stark verändert und als Jogger getarnt – bei seiner Festnahme am RAF-Depot „Daphne“ im Sachsenwald. Bei (versuchten) Verhaftungen töteten RAF-Kader mehrfach vor allem geringer besoldete Polizeibeamte, unter anderen Michael Newrzella 1993 in Bad Kleinen. Um sich als Opfer des angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ zu stilisieren, überschrieb die RAF ihre Tatbekennungen („Kommandoerklärungen“) nach ihren Mordanschlägen üblicherweise mit Namen von in Haft etwa durch Selbsttötung gestorbenen oder bei Polizeieinsätzen getöteten RAF-Mitgliedern.

Einen Höhepunkt erreichte die RAF-Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und gegen die „kapitalistische Klassenjustiz“ 1972 nach der Verhaftung fast der gesamten Spitze der sogenannten 1. RAF-Generation. Die 2. RAF-Generation mutierte daraufhin beinahe zu einer RAF-Gefangenen-Freipressungsvereinigung. Zum einen agitierte die RAF hierbei mit dem Propagandabegriff der „Isolationsfolter“ („Vernichtungshaft“) und agierte zum anderen mit „kollektiven Hungerstreiks“, um den „Kampf“ aus der Haft.

Druckmittel "kollektive" Hungerstreiks

Als weiteres Druckmittel der RAF gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ fungierten „kollektive“ Hungerstreiks. Hierbei kalkulierte die RAF-Spitze um Ensslin und Baader, die ihre Hungerstreiks immer wieder heimlich unterbrachen, frühzeitig mit Todesopfern unter ihren Gesinnungsgenossen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen. Wörtlich hieß es dazu aus der RAF: „wir brauchen eine leiche ... eine leiche und wir haben was in der Hand“. Daher forderten Ensslin und Baader von ihren Mitstreitern in den Hungerstreiks immer wieder, weiter an Körpergewicht zu verlieren. Später starb Holger Meins trotz Zwangsernährung an den Folgen des Hungerstreiks in der JVA Wittlich an der Mosel. Den Tod und das Foto seines Leichnams nutzte die RAF zur Rekrutierung neuer Mitglieder und für ihren fortgesetzten „Kampf“ gegen den „faschistischen Repressionsstaat“, der ihn ermordet habe.

Ähnlich agitierte die RAF nach der Selbsttötung Meinhofs 1976 und den Suiziden Baaders, Ensslins und Jan-Karl Raspes 1977 nach dem Scheitern mehrerer Versuche, die inhaftierte RAF-Spitze durch Entführungen und Morde freizupressen. Im Ergebnis hat die RAF die Bundesrepublik zwar erschüttert, aber in ihrer Substanz und Existenz nie gefährdet. Zu keiner Zeit gelang es der „Roten Armee Fraktion“, mehr als nur eine kleine und laute, später schrumpfende Minderheit an Sympathisanten hinter sich zu scharen.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker . Er veröffentlichte unter anderem 2011 (zusammen mit Rudolf van Hüllen) „Linksextrem – Deutschlands unterschätzte Gefahr“

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