Pflegebranche

Die Pflege steht vor dem Kollaps

Anhaltender Personalmangel, hohe Arbeitsverdichtung, steigende psychische und physische Belastungen erzeugen einen "Teufelskreis", aus dem viele Pflegende nur einen Ausweg sehen. Sie kündigen, manche innerlich, andere tatsächlich.
Notstand in der Pflege
Foto: kovop (333434570) | Laut dem Anfang Dezember vergangenen Jahres vorgestellten "Barmer-Pflegereport 2021" wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden acht Jahren auf rund sechs Millionen anwachsen

Den "Pflegenotstand" gibt es nicht erst seit Corona. Noch Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts arbeiteten allein in deutschen Kliniken und Krankenhäusern rund 400.000 Vollzeit-Pflegende. Aktuell sind es nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft rund 345.400. Klingt immer noch nach viel, ist es aber nicht. Denn in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten stieg die Zahl stationär aufgenommener Patienten in den Kliniken und Krankenhäusern um 3,2 von 16,2 auf 19,4 Millionen im Jahr. Zugleich sank die Zahl der Vollzeit-Pflegenden. Zwischenzeitlich sogar um mehr als ein Viertel.

2007, auf dem bisherigen Tiefpunkt, standen Patienten in zweistelliger Millionenhöhe gerade einmal 298.000 Vollzeit-Pflegekräfte gegenüber. Die Folge bis heute: eine gewaltige Arbeitsverdichtung und ein extremer Zeitdruck, die unweigerlich zu Qualitätsverlusten und einer höheren Fehleranfälligkeit führen, die das Leben von Patienten gefährden und zur nachhaltigen Frustration des Pflegepersonals führt. Erkennbar in das Bewusstsein von Politik und Medien sowie weiter Teile der Bevölkerung drängte der "Pflegenotstand" jedoch erst mit der SARS-CoV-2-Pandemie. Gewissermaßen über Nacht wurden Pflegerinnen und Pfleger von Politik und Medien als "systemrelevant" identifiziert, spendete ein von einem Virus in Angst und Schrecken versetztes Volk den neu entdeckten Heldinnen und Helden von seinen Balkonen Applaus. Als das Volk gewahr wurde, dass eine Infektion mit dem Virus offenbar nicht für jeden gleich gefährlich ist, verstummte der Beifall genauso spontan, wie er begonnen hatte. Dabei ist ausbleibender Applaus sicher das geringste Problem, das Menschen haben, die in der Pflege arbeiten.

Eine lösbare Aufgabe? Der Eindruck täuscht

Laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden gibt es in Deutschland derzeit mehr als 4,1 Millionen pflegebedürftige Menschen. Mehr als die Hälfte von ihnen (rund 2,1 Millionen) wird zu Hause und ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt. Bei etwa einer weiteren Million Menschen geschieht dies in Zusammenarbeit mit einem der 14.700 ambulanten Pflegedienste. Weitere rund 820.000 pflegebedürftige Menschen leben in einem der rund 15.400 Pflegeheime.

Wie die Wiesbadener Behörde Anfang Dezember vergangenen Jahres mitteilte, beschäftigten die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste im Jahr 2019 insgesamt rund 954.000 Pflege- und Betreuungskräfte. Auf den ersten Blick sieht das nach einer lösbaren Aufgabe aus. Stehen hier doch 1,82 Millionen Pflegebedürftigen immerhin 954.000 Pflege- und Betreuungskräfte gegenüber. Doch das täuscht. Und zwar gewaltig. Denn 616000 der Pflege- und Betreuungskräfte, also fast zwei Drittel der Beschäftigten, arbeiten lediglich Teilzeit. Anlass zur Sorge gibt auch die Altersstruktur in dem auch körperlich überaus fordernden Beruf: 28 Prozent der Beschäftigten sind hier längst 50 Jahre und älter. Mehr als jeder Zehnte (11 Prozent) ist sogar 60 Jahre und älter. Überhaupt sind nur rund zwei Prozent der Pflegenden derzeit jünger als 20 Jahre.

Verbesserung der Lage nicht in Sicht

Eine Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Laut dem Anfang Dezember vergangenen Jahres vorgestellten "Barmer-Pflegereport 2021" wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden acht Jahren auf rund sechs Millionen anwachsen. "Angesichts der steigenden Zahl Pflegebedürftiger und der bereits heute großen Zahl an fehlenden Pflegekräften ist Deutschland auf dem besten Wege, in einen dramatischen Pflegenotstand zu geraten. Um diesen abzuwenden, muss die künftige Bundesregierung vor allem die Ausbildung attraktiver machen. Es muss mehr Nachwuchs für die Pflege gewonnen werden", sagt Barmer-Chef Christoph Straub.

Einmal im Jahr gibt die Barmer den von Wissenschaftlern des Forschungszentrums Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM) der Universität Bremen erstellten Pflegereport heraus. 2020 widmeten die Forscher um Professor Heinz Rothgang darin den "Belastungen der Pflegekräfte" ganze 84 Seiten. Dabei ermittelten die Forscher einen Krankenstand für Altenpflegefachkräfte von 7,2 Prozent. Bei den Altenpflegehilfskräften lag er sogar bei 8,7 Prozent. Nur wenig besser sah es bei den Krankenpflegekräften aus. Hier errechneten die Forscher Krankenstände bei Fachkräften von 6,5 und bei Hilfskräften von 7,9 Prozent. Hauptgrund für die Fehlzeiten sind "psychische Belastungen", gefolgt von Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Teufelskreis aufbrechen

Zum Vergleich: In sonstigen Berufen lag der Krankenstand bei rund 5,0 Prozent. Auch kehren deutlich mehr in der Kranken- und Altenpflege Beschäftigte dem Beruf ganz den Rücken, als in anderen Branchen. Laut der Studie gehen im Schnitt 3,9 von 1.000 Altenpflegefachkräften binnen eines Jahres in die Erwerbsminderungsrente. Bei den Altenpflegehilfskräften waren es sogar sechs, bei den Krankenpflegefachkräften 3,9 und bei den Krankenpflegehilfskräften 4,2 von 1.000, die so verfahren. In sonstigen Berufen tun dies lediglich drei von 1.000 Beschäftigten. Die Bremer Forscher scheuten sich nicht, von einem "Teufelskreis" zu sprechen. Aufgrund "unzureichender Personalausstattung" komme es zu einer "erhöhten Beanspruchung" und "Überlastung" der Pflegekräfte. Vermehrte Fehlzeiten und Berufsaustritte führten für das verbleibende Personal zu einer erneuten Erhöhung der Arbeitsbelastung. Ihr Fazit: "Diesen Teufelskreis gilt es aufzubrechen, wenn die Pflege dauerhaft qualitätsgesichert geleistet werden soll."

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Was der "Teufelskreis" mit den Pflegenden macht, kann man längst nachlesen. In den sozialen Medien wimmelt es von den Statements Betroffener. Einige haben ganze Bücher geschrieben. Alexander Jorde etwa ("Kranke Pflege - Gemeinsam aus dem Notstand", 2019), Nina Böhmer ("Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken - Pflegenotstand, Materialmangel, Zeitnot - was alles in unserem Gesundheitssystem schiefläuft", 2020) oder zuletzt Ricardo Lange ("Intensiv - Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist", 2022) - allesamt Bestseller. So unterschiedlich ihr Stil und die Erfahrungen sind, die sie schildern, eines ist ihnen allen gemein: Sie brennen für ihren Beruf und leiden - an der Grenze zur Verzweiflung - an einem System, das es ihnen überwiegend unmöglich macht, ihren Beruf mit der menschlichen Zuwendung und der fachlichen Professionalität auszuüben, die sie sich in ihrer Ausbildung angeeignet haben. Natürlich wollen sie auch besser bezahlt werden.

Eine Pflegekraft für 13 Patienten

Verständlich: 2019 verdienten Vollzeit-Pflegefachkräfte in Krankenhäusern durchschnittlich rund 3.500 Euro brutto im Monat. Wer nach einer nochmals drei Jahre dauernden Zusatzausbildung auf der Intensivstation eingesetzt werden kann, geht mit rund 1.000 Euro brutto mehr nach Hause. Davon können Altenpflegerinnen nur träumen. Ordentlich ausgebildete Fachkräfte verdienten hier 2019 rund 3.100 Euro brutto im Monat. Angemessen ist das alles nicht.
Laut einer 2012 im "British Medical Journal" veröffentlichten internationalen Vergleichsstudie versorgt eine examinierte Pflegekraft in Deutschland während ihrer Schicht auf einer normalen Station im Durchschnitt 13 Patienten. Mehr als in jedem der zwölf anderen untersuchten Länder. Nur in Spanien ist die Lage ähnlich dramatisch. Hier kommen auf eine voll ausgebildete Pflegekraft 12,6 Patienten. Zu den traurigen Spitzenreitern zählen auch Belgien und Polen, wo auf eine examinierte Pflegekraft 10,7 beziehungsweise 10,5 Patienten kommen. Dass es auch anderes geht, zeigt ein breites Mittelfeld: Zu ihm zählen die Schweiz (7,8), Schweden (7,7), Niederlande (7) und Irland (6,9). Spitzenreiter im positiven Sinne sind Norwegen und die USA, wo eine examinierte Pflegekraft im Durchschnitt für 5,4 oder sogar nur 5,3 Patienten verantwortlich zeichnet.

Auch wer keinen Einblick in den Alltag von Krankenhäusern hat, kann sich leicht ausmalen, was die Pflegerinnen und Pfleger dort Tag für Tag leisten. Oder gibt es jemanden, der nicht augenblicklich den sprichwörtlichen Hut vor einer Mutter oder einem Vater zöge, der gleichzeitig fünf kranke Kinder zu pflegen hätte? Kritische Geister mögen hier einwenden, nicht alles, was hinkt, sei auch schon ein Vergleich. Und sie hätten selbstverständlich Recht. Denn Mütter und Väter kennen ihre Kinder meist in- und auswendig, werden von ihnen in aller Regel geliebt und daher nachsichtig behandelt. Auch werden sie weder sexuell belästigt, noch müssen sie jeden Handgriff zum Schutz vor haftungsrechtlichen Konsequenzen aufwendig dokumentieren. Vor allem aber wird ein gesund gepflegtes Kind meist nicht sofort wieder krank, während Pfleger und Pflegerinnen für jeden entlassenen Patienten, einfach einen neu aufgenommen bekommen, den sie erst einmal kennenlernen und auf den sie sich neu einstellen müssen. Wie man das bei 13 schaffen soll, ohne zu verzweifeln oder innerlich zu kündigen, wird das Geheimnis der Gesundheitsökonomen und -architekten bleiben, die für das gegenwärtige System verantwortlich zeichnen.

So kann es nicht weitergehen - und die Politik weiß das

Immerhin scheint die Politik inzwischen verstanden zu haben, dass es so nicht weiter gehen kann. Seit dem 1. Januar 2021 gelten die vom ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Ende 2018 festgelegten Personaluntergrenzen. Nötig wurde das Eingreifen des Ministers, weil sich Krankenkassen und Krankenhäuser trotz jahrelanger Verhandlungen nicht auf einen gemeinsamen Personalschlüssel verständigen konnten. Demnach darf eine examinierte Pflegekraft - je nach Station unterschiedlich   während einer Tagesschicht "nur" noch zwischen 2,5 Patienten (Intensivmedizin) und zehn Patienten (z.B. Allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie, Innere Medizin und Kardiologie, Neurologie) pflegen. In Nachtschichten ist es mit Ausnahme der Intensivmedizin (3,5) oft die doppelte Anzahl.

Dass dies nur ein Anfang sein kann, müsste auch dem klar sein, der aus welchen Gründen auch immer keine oder nur wenig Empathie für das Pflegendepersonal aufzubringen vermag. Denn spätestens, wenn es einen selbst trifft, sind die Bedingungen, unter denen die Pflegerinnen und Pfleger in Deutschland arbeiten, alles andere als trivial. Anders formuliert: Der Pflegenotstand produziert regelmäßig Todesfälle, die verhinderbar wären. "Zwei Patienten. Zwei Beatmungsmaschinen. Zwei Notfälle, aber nur eine examinierte Pflegekraft: ein toter Patient", zitiert der Intensivmediziner Ricardo Lange einen Kollegen in seinem empfehlenswerten Buch "Intensiv - Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist".

So weit muss niemand gehen. Auch Alexander Jorge ist zuzustimmen, wenn er beispielsweise schreibt: ",Satt, sauber, still - das kann, darf und ist nicht der Anspruch einer modernen Pflege. Und deshalb sollte sich der Mensch nicht dem System, sondern das System dem Menschen anpassen. Die Würde des Einzelnen steht über den Interessen der Allgemeinheit." Allein in einem Punkt möchte man Jorge widersprechen. Er irrt, wenn er fortfährt: "Das zu verteidigen ist unsere Aufgabe als professionell Pflegende." In Wirklichkeit ist es unser aller Aufgabe.

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