Boris Johnson erschien lange Zeit als Ausnahmepolitiker, der sich immer wieder aufrappeln konnte. Er glich einer Katze, die angeblich sieben Leben besitzt. Affären und Skandale, über die andere gestürzt wären, hat er auf mirakulöse Weise politisch überlebt. Nun aber könnte die Affäre um die „Lockdown-Partys“ sein Ende als Regierungschef einleiten. Zwei Drittel der Briten sind laut Umfragen dafür, dass er zurücktritt. Labour-Chef Keir Starmer donnerte im Parlament: „Die Party ist aus“.
Auch in der eigenen Partei wachsen die Zweifel an Johnson
Auch in der eigenen Partei wachsen die Zweifel am Brexit-Premier, der die Tories vor zwei Jahren zu einem triumphalen Wahlsieg geführt hatte. Damals war der Jubel groß. Der auf dem Kontinent als Clown belächelte und oder als Lügner verachtete Johnson hatte die Stimmung in der Bevölkerung brillant erkannt und genutzt. Seinen Kredit hat er nun aber weitgehend verspielt. Es herrscht jetzt bei den Tories eine Stimmung wie in einer Leichenhalle, schrieb die „Times“. In Umfragen sind sie sturzartig abgesackt, Labour führt mit mehr als zehn Prozentpunkten. Johnson ist der selbstverschuldet gefallene Held des Tory-Dramas.
Täglich tröpfeln Briefe von Abgeordneten ein, die ihm das Misstrauen aussprechen. Angeblich sind schon etwa 35 Briefe beim „1922 Komitee“ der Unterhausfraktion der Konservativen eingegangen. Wird die Schwelle von 15 Prozent der Abgeordneten – also 54 Briefe – erreicht, muss sich Johnson einer internen Misstrauensabstimmung stellen. Der Premier steht mit dem Rücken zur Wand, sein politisches Schicksal hängt an einem seidenen Faden. Vieles wird von dem in dieser Woche anstehenden Untersuchungsbericht der leitenden Beamtin Sue Gray abhängen, die zahlreiche Zeugen aus der Downing Street verhört hat.
„Partygate“ bringt viele Briten auf die Palme. Die schon seit Monaten schwelenden Vorwürfe um Feiern während der Corona-Lockdowns sind vor zwei Wochen explosionsartig eskaliert, nachdem eine Mail von Johnsons Privatsekretär Martin Reynolds vom Mai 2020 an einen TV-Sender durchgestochen wurde.
Während in diesem ersten Corona-Lockdown jegliche Zusammenkünfte streng verboten und sogar bei Begräbnissen eine Höchstzahl von sechs Trauergästen galt, lud Reynolds hundert Downing-Street-Mitarbeiter ein, sie sollten „das Beste aus dem schönen Wetter machen“ und im Garten für „socially distanced drinks“ zusammenkommen. Etwa 40 kamen.
Bringt euren Alkohol mit - zum "Arbeitsevent"
Vor allem Reynolds' Aufforderung „bring your own booze“ (man solle eigenen Alkohol mitbringen) passte so gar nicht zu der gewundenen Erklärung Johnsons, die nun im Parlament abgab, er habe damals im Garten geglaubt, es sei „ein Arbeitsevent“ gewesen. Zwei Tage später die nächste peinliche Enthüllung: Regierungsbeamte hatten in Downing Street am Vorabend des Begräbnisses von Prinz Philip im April 2021 ein Abschiedsfest für einen Kollegen veranstaltet. Johnson musste schleunigst eine Entschuldigung an den Buckingham Palast senden. Bei einem Interview brach ihm die Stimme, als er auf dieses Fehlverhalten seiner Mitarbeiter angesprochen wurde.
Bislang haben nur eine Handvoll Hinterbänkler sowie der schottische Tory-Chef den Premier öffentlich angegriffen, die in Westminster über mäßigen Einfluss verfügen. Der Ex-Minister David Davies rief Johnson im Parlament zu: „In Gottes Namen, gehen Sie!“ In der Downing Street bildet der Premier derzeit eine Wagenburg. Die Tory-Granden aus dem Kabinett halten noch zu Johnson, wenngleich auffällig ist, dass einige nur halbherzige Solidaritätsadressen formulierten. Finanzminister Rishi Sunak saß bei der Fragestunde im Parlament nicht wie üblich neben ihm, sondern reiste vierhundert Kilometer entfernt zu einem Tech-Unternehmen.
Die Devise in der Partei lautet, man müsse Sue Grays Bericht abwarten. Kommt Gray zu dem Schluss, dass Corona-Regeln gebrochen wurden und dass Johnson dem Parlament die Unwahrheit gesagt hat, wird er kaum noch zu halten sein. Johnsons früherer Berater Dominic Cummings schreibt, der Premier habe gelogen.
Der Premier versuchte derweil, mit einer „Operation Save Big Dog“, wie sie in Downing Street genannt wird, die täglich anbrandende Welle negativer Schlagzeilen abzuwenden. Köpfe sollen rollen von unfähigen Beratern. Fieberhaft sucht Johnson nach Sündenböcken. Als Teil der Rettungsoperation ist offenbar geplant, mit der alkoholseligen Feierkultur in Downing Street radikal Schluss zu machen. Ein „Booze-Ban“ ist im Gespräch. Mitarbeiter sollen seit Jahren regelmäßig in Koffern Wein und anderen Alkohol aus dem nahen Tesco-Supermarkt in der Westminster-Station angeschleppt haben. Dass auch Oppositionsführer Keir Starmer auf einem Video zu sehen ist, wie er während eines Lockdowns mit Labour-Aktivisten mit Bier und Sandwiches zusammenstand, war in den meisten Medien eher eine Randnotiz.
Der Sympathiebonus ist weg
Früher hat die britische Öffentlichkeit Johnson manche Skurrilität, manche Absurdität verziehen. Obwohl Eton- und Oxford-Absolvent, verstand er es mit den einfachen Bürgern, gar mit den Arbeitern in Nordengland auf kumpelhafte Weise anzubandeln. Lebemann Johnson – übrigens der erste katholische Regierungschef auf der Insel seit Jahrhunderten – war unfassbar anders. Der absichtlich verwuschelte Blondschopf, der oft selbstironische, polarisierende Anti-Politiker genoss bei seinen Anhängern einen dicken Sympathiebonus. Doch inzwischen findet kaum noch jemand die Eskapaden des 57-Jährigen lustig. Der Abwärtstrend begann im Herbst mit dem verunglückten Versuch, eine Suspendierung des – inzwischen zurückgetretenen - Abgeordneten Owen Paterson wegen Lobbyismusvorwürfen zu verhindern, was wochenlange Vorwürfe über „Filz“ (Sleaze), Lobbyismus und Korruption auslöste.
Hinter manchen Enthüllungen zu „Partygate“ steckt ohne Zweifel der geschasste Ex-Berater Cummings, der eigensinnige Vordenker der „Vote Leave“-Brexitkampagne. Seit seinem Rauswurf sinnt er auf Rache. Cummings vergleicht seinen früheren Chef mit einem Einkaufswagen, der willen- und orientierungslos hin und her geschubst werde. Derzeit würde Johnson von seiner Frau Carrie bewegt, die auch für Skandale verantwortlich ist wie die teure Renovierung der Wohnung in Downing Street 10 mit Parteispendergeld. Statt angeblich spießiger Albtraummöbel der Vorgängerin wünschte sie goldene Tapete. Manche sehen Carrie Symonds, nun Carrie Johnson als eigenständige Macht in der Downing Street. Die „Times“ zitierte einen wütenden Tory-Abgeordneter mit der witzigen Bemerkung: „Die Premierministerin sollte gehen und ihren Ehemann mitnehmen.“
Neben der „Operation Save Big Dog“ haben sich Johnsons Berater ein großes Ablenkungsmanöver „Operation Red Meat“ ausgedacht, um andere Schlagzeilen in die Medien zu bringen. Dazu zählen schärfere Maßnahmen gegen illegale Migration und Menschenschmuggel über den Ärmelkanal, neue Mittel für den Gesundheitsdienst NHS, eine Debatte über die mögliche Abschaffung der BBC-Rundfunkgebühr und die Abschaffung aller Corona-Vorschriften in England Ende Januar.
Erfolge in der Corona-Politik
In der Corona-Politik kann Johnson durchaus Erfolge verbuchen. Er hatte im Dezember darauf gewettet, dass die Omikron-Welle der Infektionen auch ohne neue drastische Restriktionen rasch wieder abflaut und der NHS nicht überfordert werde – damit lag er richtig. Dass in England bald keine Corona-Restriktionen mehr gelten, freut die Wirtschaft, die sich vom Pandemie-Einbruch schneller erholt als etwa in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist auf vier Prozent gefallen, es herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Doch es bleiben für die Briten genügend Gründe für Verdruss: Gerade die Geringverdiener leiden schwer unter den steigenden Preisen für Lebensmittel und Energie.
Johnsons politisches Schicksal hängt am Ermittlungsbericht von Sue Gray, danach ist ein Misstrauensvotum in der Fraktion hochwahrscheinlich. Sollte er dieses überleben, dürften die Kommunalwahlen im Mai den nächsten Schlag bringen. Es droht ein katastrophales Abschneiden. Das könnte für eine Tory-Revolte das Fass zum Überlaufen bringen und einen parteiinternen Neuwahlprozess in Gang setzen. Als aussichtsreichste Johnson-Nachfolger werden der beliebte Finanzminister Rishi Sunak sowie die Außenministerin Liz Truss genannt. Der jugendlich wirkende Sunak, ein Ex-Investmentbanker, verheiratet mit einer indischen Milliardärstochter, wäre als erster Hindu in der Downing Street 10 ein Novum der britischen Geschichte. Truss versucht, sich mit inszenierten Bildern, etwa jüngst im Baltikum winkend aus einem Panzer, in bekannten Thatcher-Posen darzustellen. Auch dem ehrgeizigen Ex-Außenminister Jeremy Hunt oder dem Minister Michael Gove werden Ambitionen auf das höchste Regierungsamt nachgesagt. Die nächste reguläre Unterhauswahl steht erst Ende 2024 an. Bis dahin ist noch einige Zeit, aber viele Abgeordnete der Konservativen sind hochnervös, dass diese Wahl für die Tories in einem Blutbad enden könnte.
Der Autor ist seit 2019 Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Großbritannien und Irland.
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