Schaut auf diese Stadt: Das Wahlergebnis von Berlin hat nicht bloß regionale Bedeutung, es sagt auch etwas über strukturelle Mehrheitsverhältnisse in Deutschland aus. Die CDU ist zwar mit Abstand stärkste Partei geworden, doch trotzdem hat sie nur dann eine Machtoption, wenn sie einen Koalitionspartner findet. Diese Partner können nur aus dem linken Lager stammen. Denn die beiden anderen potenziellen Partner sind entweder politisch nicht satisfaktionsfähig wie die AfD oder haben den Einzug ins Parlament nicht geschafft, wie die FDP. Sollte diese Konstellation Schule machen, dann bekommt das Wort von der "Berliner Republik" eine ganz neue Bedeutung. Es stünde für eine strukturelle Blockade nicht-linker Politik.
Die Union vor einer großen strategischen Aufgabe
Damit sieht sich die Union vor einer großen strategischen Aufgabe. Insgesamt zeigen sich vier Optionen. Variante Nummer 1: Die Union konzentriert sich auf ihre Rolle als stärkste Oppositionskraft. Das erlaubt ihr, ihren Markenkern herauszuarbeiten. Das Ziel wäre dann die absolute Mehrheit. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sich die Strategen im Adenauer-Haus für diesen Weg entscheiden. Die Union versteht sich als geborene Regierungspartei. Bei ihr gilt seit jeher: Lieber schlecht regieren, als gar nicht regieren.
Am meisten spricht deswegen für Variante Nummer zwei: Die CDU setzt darauf, entweder SPD oder Grüne als Partner zu gewinnen. Da die Große Koalition seit der Ära Merkel kein gutes Image hat, sind die Grünen die wahrscheinlichere Option. Für diese Konstellation hat sich das "Modell Österreich" eingebürgert, das einst Sebastian Kurz für Schwarz-Grün in Wien installiert hat. Es verfährt nach dem Motto: Jedem das Seine, Jeder Partner konzentriert sich auf seine Schwerpunktthemen und kommt dem Anderen nicht ins Gehege. Also: Die Schwarzen kümmern sich um die innere Sicherheit, die Grünen um die Ökologie. In NRW und Schleswig-Holstein scheint dieses Modell ganz gut zu funktionieren, das Beispiel Berlin zeigt aber, wo die Grenzen liegen. Denn wenn etwa die CDU den Grünen die Verantwortung für die Verkehrspolitik in der Hauptstadt überlassen würde, müsste sie ihren eigenen Wählern gegenüber wortbrüchig werden. Auf den ersten Blick ist das für die Union der einfachste Weg Richtung Macht, birgt aber die latente Gefahr der inhaltlichen Entkernung.
Variante Nummer drei. Die FDP besinnt sich wieder auf ihre Zugehörigkeit zum bürgerlichen Lager und erkennt in der Union ihren Favoriten bei Koalitionsbildungen. Dafür müssen aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die FDP muss überhaupt stark genug sein, um ins Parlament einzuziehen. Und: Die FDP sieht in der Ampel-Regierung nur ein Bündnis auf Zeit und nicht eine Art weltanschaulichen Jungbrunnen, aus dem sie die Kraft schöpft, endgültig mit ihrer Rolle als ewiger Mehrheitsbeschafferin zu brechen und sich als liberale Partei inhaltlich zu erneuern. Ein solcher Liberalismus würde sich dann nicht auf Wirtschaftsfragen beschränken, sondern gesellschaftspolitische Ambitionen entwickeln. Und eine FDP mit solchen Reformideen verortet sich eher an der Seite von SPD und Grünen.
Die nächsten Monate werden spannend
Genau in diese Richtung scheinen die Überlegungen der Parteispitze aktuell zu gehen. Christian Lindner hat betont, dass er keinen Grund für eine Kursänderung sehe. Und auch die Zoten von Marie-Agnes Strack-Zimmermann über CDU-Chef Friedrich Merz beim Aachener Karneval sprechen dafür. Die schlechten Wahlergebnisse der Liberalen könnten aber irgendwann zu einem Umdenken führen.
Schließlich Variante vier: Die AfD mausert sich zu einem akzeptablen Partner für die Union. Auch wenn Alice Weidel und Tino Chrupalla dies immer wieder beschwören, spricht doch aktuell alles dagegen. Die Haltung der Partei zu Russland und ihr Kurs der Fundamentalopposition machen sie auf lange Sicht politikunfähig. Die nächsten Monate werden spannend.
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