Sie hatten seit Jahren schon gewarnt- doch die Entscheidungsträger ignorierten ihre Expertise einfach: Das Erdbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens sei vorhersehbar gewesen, so kritisierte der renommierte Geologe Naci Görür dieser Tage. Schon mehrfach in den vergangenen Jahren hatte Görur in Interviews darauf hingewiesen, dass die in der Türkei nun vom Erdbeben betroffenen Städte ein Hochrisikogebiet seien. Wissenschaftler hätten dies im Fernsehen gesagt, sie hätten es überall gesagt, doch nie hätten sich Politiker für die Warnungen interessiert, klagte nun Görür.
Eigentlich befindet sich die Türkei im Wahlkampf. Im Juni sollten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Auf Wunsch von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sollen diese nun aber auf den 14. Mai vorgezogen werden. Bis zu den Beben hatte es durchaus gut ausgesehen für ihn. Obwohl inmitten einer Wirtschaftskrise waren seine Beliebtheitswerte doch zuletzt wieder gestiegen. Dreimal innerhalb eines Jahres war der Mindestlohn erhöht worden. Und die Glanzlosigkeit der Opposition tat ihr Übriges.
„Wo ist die türkische Armee?“
Doch nun könnten die Wahlen verschoben werden. AKP-Mitbegründer Bülent Arınç hat bereits entsprechende Andeutungen gemacht. Denn an Wahlkampf ist momentan kaum zu denken. Fast eine Minute lang bebte die Erde - es war das größte Erdbeben in der Region seit 900 Jahren. Mehr als 32 000 Tote wurden bisher im Süden der Türkei gezählt. Auch Tage nach der Katastrophe warteten die Menschen mancherorts noch auf Rettungsmannschaften. In sozialen Netzwerken wird berichtet, dass betroffene Siedlungen wie Hatay, Adıyaman und Elbistan, in denen viele Angehörige von Minderheiten wie Aleviten oder Kurden leben, gezielt ignoriert werden würden. Zwar lässt sich der Vorwurf, der nach Herkunft gesteuerten Nothilfe nicht erhärten, doch zeigt er, wie tief das Misstrauen der Menschen gegenüber Ankara sitzt. Denn die Regierung betreibt in der Süd- und Osttürkei teilweise eine harte Assimilationspolitik. Und warum das in den Kurdengebieten allgegenwärtige Militär nicht umgehend für den Katastrophenschutz eingesetzt wurde, muss noch beantwortet werden. Der Extrembergsteiger und Schriftsteller Nasuh Mahruki, der nach dem Beben von 1999 mit der Nichtregierungsorganisation AKUT eine Suchhund- und Rettungstruppe gegründet hatte, stellte deswegen nun öffentlich die Frage: „Wo ist die türkische Armee?“
In zehn Provinzen gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Unter diesem kann der Präsident Grundrechte wie die Presse- und die Versammlungsfreiheit einschränken. Erdoğan hat davor gewarnt, nun „Fake-News“ zu verbreiten. Wer dies dennoch tue, der werde dafür die Rechnung erhalten. So wurden wieder einmal Dutzende Personen festgenommen, die sich in sozialen Medien zum Beben geäußert hatten. Der Präsident weiß, dass die zögerliche Reaktion der damals regierenden Mitte-links Koalition auf das große Erdbeben im Nordwesten der Türkei im Jahre 1999 als ein entscheidender Faktor für den Aufstieg der AKP angesehen wird. So instrumentalisiert Erdoğan inmitten der Staatstrauer schon jetzt wieder das Unglück zu seinen eigenen Gunsten, indem er Zwietracht innerhalb der Opposition sät.
Viele Menschen haben Fragen an Erdoğan
Eine Koalition aus sechs Oppositionsparteien hat sich zusammengeschlossen, um Erdoğan von der Macht zu verdrängen. Zu dem Bündnis, auch bekannt als „Tische der Sechs“ gehören die auch die sozialdemokratische CHP und die Iyi Parti, noch haben diese keine Kandidaten für die Wahlen aufgestellt. Doch anstatt zunächst den CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu über die Hilfsmaßnahmen zu informieren, rief Erdoğan Meral Akşener an, die Vorsitzende der nationalistischen Iyi Parti. Akşener hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sie gegen eine mögliche Kandidatur Kılıçdaroğlus bei den Wahlen ist.
Rund 13, 5 Millionen Menschen leben in den zehn Provinzen, die mittelbar von dem Erdbeben betroffen sind. Erdoğan weiß, dass diese Menschen viele Fragen an ihn haben werden. Was ist etwa mit der Erdbebensteuer geschehen, die seit dem Beben von 1999 erhoben wird? Die Opposition wirft der AKP vor, diese zweckentfremdet zu haben, statt das Geld in die Gebäudesicherung zu investieren. Warum kamen die türkischen Rettungsteams teils verspätet in den Katastrophengebieten an? Wer hat eigentlich die Baulobby kontrolliert, die sich unter Erdoğan zur grössten Industrie entwickelte? Und warum wurden all die Wissenschaftler nicht gehört, die vor den Beben warnten?
Der früherer Leiter des Amtes für Erdbebenrisiko und Stadtentwicklung etwa, hatte in einem Bericht gewarnt, dass bei einem starken Beben in Istanbul bis zu 500 000 Gebäude beschädigt werden könnten. Nachdem er seinen Bericht auch der Regierung vorgelegt hatte, wurde er im April 2022 zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Städteplaner soll die Gezi-Proteste unterstützt haben, die im Jahre 2013 landesweit gegen die Regierung stattfanden.
Der Geologe Naci Görür musste weinen, als er die ersten Bilder aus den Katastrophengebieten sah. Es sei so vorhersehbar gewesen - und trotz der beständigen Warnungen hätten die Entscheidungsträger nie gefragt, was sie tun könnten.
Die Autorin ist Journalistin. Sie veröffentliche 2016 „Erdoğan. Die Biographie“ (Herder).
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