London

Die Macht des Mythos

Boris Johnson, Donald Trump und die Bedeutung des Churchill-Faktors für den britischen und amerikanischen Konservativismus.
Regierungswechsel in London
Foto: Dominic Lipinski (PA Wire) | Was Boris Johnson und Donald Trump verbindet - und was sie trennt.

Winston Churchill war britischer Premier in einer entscheidenden Phase für die Geschichte seines Landes, ein mitreißender und charismatischer Redner – und ein Staatsmann mit welthistorischer Ausstrahlungskraft. Boris Johnson ist ebenfalls Premierminister in einer Krise geworden, ebenso weiß er ein großes Publikum als Rhetoriker in seinen Bann zu ziehen – ob er aber auch zu einem großen Staatsmann werden wird, das zeigt die Zukunft. Den Willen dazu hat Johnson in jedem Fall. Und so wird er nicht müde, den legendären Kriegspremier als sein Vorbild zu beschwören.

Über den „Churchill-Faktor“ hat Johnson 2014 ein Buch veröffentlicht

Sei es, dass er ihn in seinen Reden zitiert, wie auch jetzt nach seinem Amtsantritt. Sei es, dass er in die Rolle des gelehrten Historikers schlüpft und unterhaltsam wie analytisch überzeugend gleichermaßen erläutert, was Churchill zum idealen Leitbild für Führungspersönlichkeiten für die freie Welt mache. Über den „Churchill-Faktor“ hat er bereits 2014 ein Buch veröffentlicht. Ein Bestseller-Erfolg auch über Großbritannien hinaus. Ein Beleg dafür, dass Johnson mit diesem Thema auf ein Bedürfnis der Leser reagiert, die ja auch Wähler sind.

Die Sehnsucht nach „leadership“, nach Führungspersönlichkeiten, ist in einer Zeit der permanenten Bedrohung in der westlichen Welt zu einem wichtigen politischen Motor geworden, der die Menschen umtreibt. Wer diese Sehnsucht stillt, der gewinnt auch Wahlen. Eine Einsicht, die auch jenseits des Atlantiks die Basis für politischen Erfolg ist: Gleich nachdem er in das Weiße Haus eingezogen ist, hat Donald Trump im Oval Office wieder die große Churchill-Büste platzieren lassen, die dort auch schon früher gestanden hatte. Barack Obama hatte sie durch einen Kopf von Martin Luther King ersetzt und in einen anderen Raum verbannt. Trump aber führte Sir Winston zurück in das Zentrum der Macht. Eine Geste mit Symbolgehalt: Er stellt sich in eine Linie mit der Legende. Und dieses Signal ist auch von Trumps Anhängerschaft verstanden worden. Trump zeige eine Führungsstärke wie Churchill.

Wie Johnson und Trump den Churchill-Mythos nutzen

Genau wie dieser weigere er sich, eine Appeasement-Politik a la Chamberlain zu betreiben, auch dann, wenn dies öffentliche Kritik hervorrufe und das gesamte politische Establishment sich gegen ihn wende. So twitterte der damalige republikanische Gouverneur von Arkansas, Mike Huckabee, im Dezember 2017.

Und hier wird auch deutlich, in welcher Weise Johnson wie auch Trump den Churchill-Mythos nutzen: zur Scheidung der Geister. Auf der einen Seite die Politik der Führungsstärke, von Sir Winston im siegreichen Kampf gegen Nazi-Deutschland praktiziert. Auf der anderen die Politik des Appeasements, also einer Strategie, die daraufsetzt, den Gegner zu besänftigen statt ihn zu besiegen. Oder wie Huckabee es bezogen auf die politische Situation in der USA in seinem Tweet formuliert hat: Obama sei ein Chamberlain gewesen. Aber „Make America great again“ – das klingt für ihn eben nach Churchill.

Schon Thatcher und Reagan waren Fans von Sir Winston

Hier findet sich die Parallele zu Johnson. „Let's take back control“ – auch der Slogan der Brexit-Befürworter beim Referendum wollte die Churchill-Tonlage anschlagen. Indirekt steht der Vorwurf im Raum, diejenigen, die für einen Verbleib in der EU plädierten, wollten eben gar nicht die Kontrolle über das Land zurück, sei es, weil sie zu kraftlos seien, sei es, weil sie die Notwendigkeit, kämpfen zu müssen, gar nicht erkennen – jedenfalls habe das politische Establishment eine Appeasement-Haltung.

Der Churchill-Mythos könnte also zu einem Motor der „special relationship“ zwischen den USA und Großbritannien werden und gleichzeitig eine konservative Renaissance beflügeln, die manche mit Trump und Johnson verbinden. Diese Hoffnung gab es schon einmal, vor gut 35 Jahren. Damals regierten Margret Thatcher und Ronald Reagan, die sich bestens verstanden haben und natürlich auch beide Fans von Sir Winston waren. Aber letztlich war dies damals wenig mehr als eine historische Reminiszenz.

Ein Film über Churchill ruft den Kriegshelden von einst wieder ins Gedächtnis

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Wieviel programmatisches Potenzial für eine konservative Renaissance bietet aber der Churchill-Mythos tatsächlich? Eine Antwort darauf liefert das Werk eines Historikers, der vor wenigen Wochen, in Deutschland nahezu unbemerkt, im Alter von 95 Jahren gestorben ist: John Lukacs. "Darkest hour“ („Die dunkelste Stunde“), die Filmbiographie Churchills aus dem Jahre 2017, die dem Premier-Darsteller Gary Oldman einen Golden Globe und einen Oscar einbrachte und dafür sorgte, dass auch der jüngeren Generation der Kriegsheld von einst ein Begriff ist, lehnte sich an Lukacs Hauptwerke an: „Five days in London, May 1940“ (1999) und „The Duel: 10 May–31 July 1940: the Eighty-Day Struggle between Churchill and Hitler (1991; deutsch: Churchill und Hitler. Der Zweikampf 10. Mai–31. Juli 1940, 1992).

Die These: In Momenten, in denen die Weichen für die weitere Entwicklung der Geschichte gestellt werden, kommt es auf Persönlichkeiten an. Hier standen nicht nur zwei Staaten im Krieg, sondern zwei unterschiedliche Systeme verkörpert in ihren jeweiligen Anführern. Für Lukacs waren totalitäre Regime wie das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Erscheinungen der Moderne. Ihnen stellte er das Britannien Churchills gegenüber; der Premier verkörperte für ihn die Werte des alten Europas, die gegenüber der totalitären Bedrohung zu verteidigen sind.

Lukacs hatte selbst unter den Regimen gelitten

Lukacs hatte selbst unter den Regimen gelitten. Im Ungarn des mit Hitler verbündeten Admirals Horthy galt er als jüdischstämmig – seine Mutter war Jüdin, sein Vater Katholik. Zum Militär wurde er deswegen nicht eingezogen, sondern musste im Arbeitsdienst Zwangsarbeit leisten. 1944 desertierte er und entkam so seiner Deportation ins Konzentrationslager Auschwitz. Nach dem Krieg ging er schließlich als überzeugter Anti-Kommunist in die USA. Er nannte sich nun dort aber nicht Konservativer, sondern „Reaktionär“.

Und dies hat wiederum etwas mit Churchill und der Entwicklung der Republikanischen Partei zu tun. Reaktionär zu sein, dass hieß für Lukacs, sich zu den Werten des alten Europas zu bekennen, für die Churchill stand. Der Reaktionär sei Patriot, nicht Nationalist; er glaube an Geschichte, nicht an Evolution. Schließlich verteidige er alle ehrwürdigen Traditionen des Landes, auch wenn diese vielen altertümlich erschienen, technischen Entwicklungen stünde er skeptisch gegenüber.

Politik wird künftig von zwei Erscheinungsformen der Rechten bestimmt

So eine reaktionäre Einstellung führe allerdings in die soziale Isolation. Auch die Republikaner, die sich als die konservative Partei verstünden, hätten sich von dieser Haltung entfernt und sich stattdessen für Nationalismus und Populismus geöffnet. In einem seiner letzten Bücher über Populismus machte Lukacs eine interessante Prognose (Rod Dreher hat anlässlich von Lukacs Tod in The American Conservative darauf aufmerksam gemacht): Die Linke habe völlig versagt. Künftig werde das politische Leben durch zwei Erscheinungsformen der Rechten bestimmt. Auf der einen Seite eine Rechte, die die Liberalen mehr hasse, als dass sie die Freiheit liebe, die nationalistisch sei; die glaube, die USA habe das Schicksal, die Welt zu ordnen und auf die Entwicklung von Technologien und Maschinen setze. Und eine andere Rechte, die die Freiheit mehr liebe als sie die Liberalen hasse, die patriotisch sei, an keinen Auftrag Amerikas in der Welt glaube und sich der Pflege der Tradition widme, statt auf technische Innovation zu setzen. Die Pointe: Diese erste Form der Rechten stelle den Fortschritt nicht in Frage, die zweite schon. John Lukacs hätte Churchill wohl, wie sich selbst auch, der zweiten Gruppe zugeordnet. Wie sieht es mit Johnson und Trump aus?

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