Berlin

Die Humanitäre Intervention - der neue Gerechte Krieg?

Was tun, wenn Menschen zu Hunderttausenden ermordet werden? Der Völkermord in Ruanda hat neue Antworten auf alte Fragen hervorgebracht.
Völkermord in Ruanda
| Völkermord in Ruanda Eine ruandische Frau bettelt in einem Flüchtlingslager um Essen.

Von Anfang an standen die Vereinten Nationen (VN) durch ihre konstituierenden Normenkataloge Charta (1945) und Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) vor der schwierigen Aufgabe, den Schutz der in der Allgemeinen Erklärung verbrieften Menschenrechte unter das Prinzip der Souveränität der Staaten zu stellen, ein Prinzip, das die VN aus der Westfälischen Ordnung (1648) übernahmen und das in der Charta unter dem Vorzeichen einer dekolonialisierten Welt als Basis der internationalen Beziehungen ausdrücklich bestätigt wurde, in Gestalt der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker in Richtung Autonomie gewendet. Die Botschaft lautete: „Mischt euch nicht ein!“

Nach dem Ende des Kalten Krieges, also nach der epochalen Wende der Jahre 1989 (Fall der Berliner Mauer) und 1991 (Zusammenbruch der Sowjetunion) musste und konnte die Rolle der Vereinten Nationen neu definiert werden. Das Souveränitätsprinzip blieb zwar grundsätzlich erhalten, verlor allerdings an Bedeutung. UN-Generalsekretär Butros Butros-Ghali (von 1992 bis 1996 im Amt) erklärte in diesem Sinne „die Zeit der absoluten und ausschließlichen Souveränität für abgelaufen“. Eine besondere Rolle spielten bei dieser Neuorientierung die ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien seit den frühen 1990er Jahren und insbesondere der Völkermord in Ruanda (1994), dessen Beginn sich in diesen Tagen zum 25. Male jährt.

Der Völkermord der Hutu an den Tutsi kostete etwa 800 000 Menschen das Leben. Es gelang dem Sicherheitsrat der VN nicht, sich zu einigen und den bislang nur im Zusammenhang mit der Schoah verwendeten Begriff „Genozid“ unter den völkerrechtlichen Tatbestand der Aggression zu subsumieren, um damit ein Eingriffsrecht gemäß Charta zu begründen. So blieb das, was geschah, nicht-staatliche Gewalt in den Grenzen eines souveränen Staates. Da können sie nichts tun, die Vereinten Nationen. Ergo: Die Weltgemeinschaft sah tatenlos zu. Was ihr blieb, war der Aufbau eines Tribunals zur Klärung der Ereignisse und zur Bestrafung der Täter.

Und: Der Wille, Maßnahmen zu ergreifen, die ein „zweites Ruanda“ unmöglich machen. Das Beispiel Ruanda zeigte zweierlei sehr deutlich: 1. Das Verständnis der „Aggression“ als „Krieg zwischen souveränen Staaten“ greift zu kurz, in Zeiten von nicht-staatlicher und innerstaatlicher Gewalt. Damit steht die staatliche Souveränität als Paradigma internationaler Beziehungen in Frage, soweit damit nicht die Verantwortung des Staates für den Schutz des Volkes gemeint ist, sondern ein Schutz vor Einmischung in Staaten, in denen das Volk leidet. 2. Wenn es aber Interventionen in eindeutigen Fällen von gerechtfertigtem Eingriff, also bei ethnischen Säuberungen und Völkermord, geben soll, so brauchen diese eine Rechtsgrundlage, wie sie damals auch von der Kirche gefordert wurde. Zum Abschluss des außerordentlichen Konsistoriums vom 13. und 14. Juni 1994 appellierten die Kardinäle einstimmig an die Weltgemeinschaft: „Die große Tragödie in Ruanda zeigt, wie notwendig es ist, dass die Länder auf der ganzen Welt juridische Grundlagen für die Modalitäten humanitären Eingreifens schaffen.“

Eine solche wurde unter dem Begriff der „Schutzverantwortung“ um die Jahrtausendwende entwickelt: das Gutachten „The Responsibility To Protect“. Es wurde von der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) im Auftrag der kanadischen Regierung in den Jahren 2000 und 2001 erarbeitet. Unter der Maßgabe, Souveränität bedeute in erster Linie die Verantwortung eines Staates für den Schutz seiner Bürger, werden völkerrechtliche Reformen zugunsten eines mehrstufigen Konzepts für einen humanitären Interventionismus‘ vorgeschlagen, damit die Weltgemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen systematischen Vernachlässigungen dieser Verantwortung wirksam begegnen kann. Die Frage, die die ICISS zu beantworten hatte, lautete: Sind humanitäre Interventionen erlaubt, und wenn ja: wann, wie und unter wessen Führung? Fragen, die bereits in der Spätantike (Augustinus) beziehungsweise im Hochmittelalter (Thomas von Aquin) gestellt und beantwortet wurden – damals hieß die Denkfigur bloß anders: Gerechter Krieg. Die Antwort der ICISS ist eindeutig: Ja, humanitäre Interventionen sind erlaubt, wenn es darum geht, menschlichem Leid („human suffering“) zu begegnen, das in erheblichem Ausmaße („large scale“) unmittelbar auftritt oder sehr wahrscheinlich auftreten wird („occurring … or immenently likely to occur“). Dabei geht es um existenzbedrohendes Leid („loss of life“). Der ICISS-Report ist nicht nur ein interessanter theoretischer Diskursbeitrag, sondern ein Vorstoß, der praktische Wirkung entfaltete. So heben mehrere Entschließungen der Vereinten Nationen, die in den 2000er Jahren von der Generalversammlung verabschiedet wurden, auf die Argumentationsfigur „Schutzverantwortung“ ab. Die Afrikanische Union hat die Responsibility To Protect-Doktrin in ihre Statuten aufgenommen. Der internationale Militäreinsatz in Libyen 2011 gilt als Präzedenzfall ihrer Anwendung.

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Veranstaltung am 6. April in Heiligenkreuz

Die Philosophisch-Theologische Hochschule Heiligenkreuz lädt am 6. April zur Fachtagung „Frieden bedeutet mehr als ‚Nicht-Krieg‘ – Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer“. Unter den Vortragenden sind u.a. der chaldäisch-katholische Patriarch, Kardinal Mar Louis Raphael Sako, Serge Brammertz, Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs Den Haag, Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und der Historiker Peter Wiesflecker.

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Die Völkermorde des 20. Jahrhunderts

Völkermord an den Herero (70 000 Tote, 80 Prozent der Bevölkerung) durch die Deutschen (1904–1908)

Völkermord an den Armeniern (1,5 Millionen Tote) durch die Türken (1915–1917)

Völkermord an den Sinti und Roma (Porajmos, 500 000 Tote) durch die Deutschen (1939–1945)

Völkermord an den europäischen Juden (Schoah / Holo- caust, 6 Millionen Tote) durch die Deutschen (1941–1945)

Völkermord an den Timoresen (200 000 Tote) durch die Indonesier (1975–79)

Völkermord an den Tutsi (800 000 Tote, 75 Prozent der Bevölkerung) durch die Hutu in Ruanda (1994)

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