Russland

Die  gekränkte  Großmacht

Wladimir Putins Versuch, das zusammengebrochene Sowjetimperium zumindest im "Kleinformat" wiederherzustellen, hängt von der Ukraine ab.
Russische Flagge
Foto: IMAGO/Ramil Sitdikov (www.imago-images.de) | In den 1990er Jahren hat eine nationale Woge in Russland die demokratische Woge der Perestroika-Zeit abgelöst.

Der vor einem Jahr begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt den negativen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die unmittelbar nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 einsetzte. Die Tatsache, dass ein Imperium, das noch kurz zuvor gemeinsam mit den USA über die Geschicke der Welt entschieden hatte, über Nacht verschwand, bildete für die imperial gesinnten russischen Gruppierungen einen unfassbaren Vorgang, eine Art Apokalypse. Sie ließen sich nicht mit dem Argument trösten, dass auch andere europäische Mächte ihre Imperien im Lauf des 20. Jahrhunderts verloren hatten.

Parallelen zwischen Weimarer Republik und heutigem Russland

So wurde Russland nach dem Zerfall des Sowjetreiches zu einer "gekränkten Großmacht", deren Lage in vieler Hinsicht an jene der Weimarer Republik erinnerte. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Staaten sind verblüffend. Wie damals in der Weimarer Republik wird auch im post-sowjetischen Russland die Demokratie mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung auf dem europäischen Kontinent assoziiert, mit dem Verlust von Territorien und der Entstehung einer neuen Diaspora.

Dabei geschah der Zusammenbruch in beiden Ländern praktisch über Nacht; innerlich waren sie darauf völlig unvorbereitet. Im Wilhelminischen Deutschland glaubte man bis zuletzt an einen Sieg im Weltkrieg. Ähnlich fassungslos reagierten viele Russen auf den Zusammenbruch des Sowjetreiches. Diesen plötzlichen Abstieg führen manche Verfechter der alten Ordnung im heutigen Russland, ähnlich wie dies viele Nostalgiker in der Weimarer Republik taten, auf die Verschwörung dunkler Mächte zurück. Besonders eifrig beteiligten sich an der Verbreitung von "Dolchstoßlegenden" ausgerechnet Vertreter der früheren Machteliten, die durch die Überspannung der Kräfte der jeweiligen Nation zum Zusammenbruch des jeweiligen Imperiums wesentlich beigetragen hatten.

Es war allerdings nicht nur die "national-patriotische" und militant antidemokratische Opposition, die nach der Auflösung der UdSSR von einer imperialen Revanche träumte. Auch den siegreichen Demokraten, die den Putsch der ewig gestrigen kommunistischen Dogmatiker vom August 1991 niederschlugen, fiel der Abschied vom Imperium schwer. Als Boris Jelzin und seine Gesinnungsgenossen im August 1991 die seit November 1917 herrschende Kommunistische Partei entmachteten, kämpften sie nicht nur unter demokratischen, sondern auch unter national-russischen Fahnen. Die Aufbruchsstimmung, die damals in Moskau herrschte, erinnerte an die Atmosphäre der Frankfurter Paulskirche von 1848, als die Idee der Freiheit und die der Nation eine Symbiose eingingen. Doch diese Bewegung strebte nicht nur nach Freiheit, sondern auch nach Macht.

Nationale Woge

Viele Demokraten, die sich vor dem August 1991 für die "Rückkehr" Russlands nach Europa eingesetzt hatten, begannen sich nun auf den "russischen Sonderweg" zu besinnen. Den prowestlich orientierten Kreisen in der Regierung warfen sie eine grenzenlose Nachgiebigkeit gegenüber den unmittelbaren Nachbarn Russlands vor. So erklärte der politische Berater des russischen Präsidenten, Sergej Stankewitsch, Mitte 1992: "Unsere Nachbarn betrachten Russland als eine Art Relikt, von dem man sich diesen oder jenen Teil abschneiden kann."

Begriffe wie Nationalstolz oder nationale Interessen seien für den Westen selbstverständlich, fügte der Vorsitzende des Außenpolitischen Komitees des Obersten Sowjets, Jewgenij Ambarzumow, hinzu. Warum sollten sie nicht auch für Russland gelten? So begannen sich Russland und der Westen erneut asynchron zu entwickeln. Während der westliche Teil des europäischen Kontinents in den 1990er Jahren an der Schwelle eines postnationalen Zeitalters stand und einen tieferen Integrationsprozess erlebte, kehrte das isolierte Russland quasi ins 19. Jahrhundert zurück und begann, den "nationalen Interessen" eine immer größere Bedeutung beizumessen. Der Moskauer Religionswissenschaftler Dmitrij Furman sprach Anfang 1992 von einer nationalen Woge im Land, die die demokratische Woge der Perestroika-Zeit abgelöst habe. Beide Wellen hätten eine beinahe unwiderstehliche Kraft an den Tag gelegt.

Tschetschenische Irritationen

Die von Furman erwähnte "nationale Woge" war mächtig, aber zunächst nicht allmächtig. Denn jene russischen Demokraten, die sich noch zu europäischen Werten bekannten, waren keineswegs bereit, ihren national und imperial gesinnten Kontrahenten die Initiative im innerrussischen Diskurs zu überlassen. Sie meldeten sich unentwegt zu Wort. Ihnen war es zu verdanken, dass die im Dezember 1994 begonnene Bestrafungsaktion Moskaus gegen das abtrünnige Tschetschenien im September 1996 mit einem Kompromiss endete. Dieser Kompromiss, der den ersten Tschetschenienkrieg beendete, rief widersprüchliche Gefühle in Russland hervor. Einerseits reagierte die Mehrheit der Bevölkerung auf die Beendigung der Kriegshandlungen mit Erleichterung. Zugleich galt die Vereinbarung in den Augen vieler Russen als Besiegelung der russischen Niederlage, als Verlust eines Gebiets, das de jure Bestandteil der Russischen Föderation war. Angesichts des im Land verbreiteten imperialen Denkens wirkte der Verlust Tschetscheniens umso irritierender.

Dies also war die Stimmung, die den kometenhaften Aufstieg Putins förderte, den Boris Jelzin im August 1999 zum Ministerpräsidenten ernannte und einige Monate später zu seinem Nachfolger auserkor. Der Publizist Andrej Gratschow kommentierte in der regierungskritischen Zeitung "Moskowskije Nowosti" den Aufstieg Putins so: "Putin ist der erste (postsowjetische) Ministerpräsident, der seine Popularität nicht der wirtschaftlichen Effizienz, sondern einer Militärkampagne verdankt."

Putin stilisiert sich als Anti-Jelzin

Der Herrschaftsstil Putins unterschied sich von Anfang an grundlegend von dem Jelzins. Im Zentrum der Aufmerksamkeit Putins stand nicht die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe Russlands, sondern der Versuch, die Folgen der demokratischen Augustrevolution von 1991 wie auch der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 rückgängig zu machen. Da die beiden Ereignisse untrennbar mit der Person des ersten russischen Präsidenten verbunden waren, stilisierte sich Putin zu einer Art Anti-Jelzin, der die Folgen des Wirkens seines Vorgängers ungeschehen machen wollte.

Dabei stellte sich heraus, dass vor allem die Ukraine der Verwirklichung dieser ehrgeizigen Pläne Putins im Weg stand. Insbesondere seit den Revolutionen von 2004 und 2013/14 stellt die Ukraine die größte Herausforderung für die imperialen Ambitionen Moskaus dar und übernimmt somit die Rolle, die Polen über Generationen und bis 1989 auf diesem Gebiet spielte.

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Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als Polen infolge der Teilungen von der politischen Landkarte Europas verschwand, waren die russischen Herrscher überzeugt, dass das russische Imperium einen eventuellen Verlust Polens nicht überleben werde. Deshalb waren sie trotz der permanenten Aufsässigkeit der polnischen Gesellschaft nicht bereit, auf das "Land an der Weichsel" zu verzichten. Diese Überzeugung hatte sich nach 1945 auf die sowjetische Führung übertragen. Auch sie ging davon aus, dass der Verlust Polens das gesamte imperiale Gefüge Moskaus zum Einsturz bringen könnte. Ähnlich denkt man heute in Moskau über die Ukraine. Der Versuch Wladimir Putins, das 1991 zusammengebrochene Sowjetimperium zumindest im "Kleinformat" wiederherzustellen, scheint davon abzuhängen, ob die Ukraine sich für die östliche oder die westliche Option entscheidet.

Putin hat sich verschätzt

Die "europäische Wahl", die die Ukraine 2004 und 2013/14 traf, bedeutete eine Absage an die Bevormundung der Gesellschaft durch den autoritären Staat und ein Bekenntnis zu freien und authentischen Wahlen. Vor solchen Wahlen aber hat Putin panische Angst. Er war sich darüber im Klaren, dass der demokratische Aufbruch in einem Land, das mit Russland sprachlich so eng verwandt ist, an der Grenze der Ukraine nicht stehen bleiben wird. Daher sein Versuch, die Ukraine zu spalten, zu destabilisieren und seit der "Zeitenwende" vom 24. Februar 2022 als souveränen Staat zu zerstören.

Warum fasste Putin damals diesen verheerenden Entschluss? Dies war sicher mit seiner Überzeugung verbunden, dass die NATO nach ihrem Afghanistan-Debakel vom August 2021 ihre Handlungsfähigkeit gänzlich eingebüßt habe. Radikale Verfechter einer Revanche wie Wladislaw Surkow und Alexander Dugin spornten Putin dazu an, die angebliche Schwäche des Westens auszunutzen und sofort zu handeln: "Amerika ist auf dem Rückzug. Wir müssen angreifen!", schrieb Dugin Ende September 2021 und fügte hinzu: "Russland hat die historische Chance, seinen Einflussbereich fast weltweit dramatisch auszuweiten  Wir müssen uns auf eine Gegenoffensive vorbereiten. Solange die Dinge sind, wie sie sind, ist dies unsere historische Chance. Es wäre ein Verbrechen, sie zu verpassen."
Putin dachte am 24. Februar 2022 ähnlich. Dennoch erwiesen sich beinahe alle Prämissen Dugins und Putins als falsch: Der geplante "Blitzkrieg" gegen die Ukraine fand aufgrund des heroischen Widerstandes des überfallenen Landes nicht statt, die NATO erwies sich als durchaus handlungsfähig, und die Europäische Union fand infolge ihrer vorbehaltlosen Solidarisierung mit den Opfern der russischen Aggression ihr seit langem vermisstes Narrativ wieder.

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