Direkt nach dem Überfall Putins auf die Ukraine demonstrierte der Westen Stärke und Geschlossenheit. Russland sollte durch Sanktionen wirtschaftlich isoliert werden, vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen sein. Der Ukraine versprach man moralischen und militärischen Beistand. Die Nato - vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron einmal als "hirntot" bezeichnet - nahm neue Gestalt an. Nicht zuletzt dank des Engagements der schwedischen und finnischen Regierungschefinnen, die sich auch von den diplomatischen "Basar"-Tricks des türkischen Präsidenten Recep Erdogan nicht stoppen ließen. Expansion und Verstärkung der Ostflanke wurden Wirklichkeit in einer Geschwindigkeit, die sich Wladimir Putin so wohl nicht ausmalen konnte.
Der Westen macht einen geschwächten Eindruck
Trotzdem herrscht im Sommer nach dem Überfall im Westen Katerstimmung vor. Mögen die Gipfelveranstaltungen der vergangenen Wochen, allen voran der G7-Gipfel, auch mit komplett anderer Intention konzipiert worden sein: über die provozierenden Oberkörper-Witzeleien des kanadischen und britischen Premiers kann der Mann im Kreml heute vermutlich noch genüsslicher lächeln als zum Zeitpunkt der Veranstaltung. Denn: Wer oder wo ist Boris Johnson? Ausgerechnet der europäische "Leader", der am effizientesten an der Seite der Ukraine stand, hat sich mit seiner zügellosen Klassenclown-Mentalität die politischen Standbeine weggerissen. Seine Phantasievorstellung, eine Art Churchill des 21. Jahrhunderts zu werden, ist geplatzt. Egal, wer an seine Stelle treten wird: es wartet eine große Aufgabe auf diese Person.
Zumal auch die anderen "Leader" des Westens einen unglücklichen und geschwächten Eindruck machen. Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der es sich im Frühjahr nicht nehmen ließ, persönlich in Kiew und Moskau als williger Brückenbauer vorbeizuschauen, hat seinen Rückzug aus der Politik verkündet. US-Präsident Joe Biden, der im März noch mit einer leidenschaftlichen Rede in Warschau Wladimir Putin in die Schranken wies, ist inzwischen nicht nur vom Fahrrad gefallen - in einem Akt merkwürdiger Illoyalität trat er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj rhetorisch in den Rücken, als er Mitte Juni bei einer Veranstaltung in Los Angeles verriet, dass dieser (genauso wie die Europäer) die Warnungen der US-Geheimdienste, dass ein russischer Überfall drohe, ausgeschlagen habe. "Selenskyj wollte das nicht hören, und viele andere auch nicht."
Ob damit auch der französische Präsident gemeint war? Über Macrons Telefon-Diplomatie mit Putin ist schon viel gespottet worden auch über seine geschwächte Rolle nach den französischen Parlamentswahlen, bei der sein Lager die absolute Mehrheit verlor. Eine ganze neue Dynamik des Machtverfalls könnten ihm die aktuellen "Uber Files"-Enthüllungen bescheren wieso setzte sich Macron als Wirtschaftsminister so stark für die Markteroberung des US-Konzerns ein? Welche gesetzlichen Grenzen wurden überschritten?
Scholz und die energiepolitischen Altlasten
Solche Probleme hat Bundeskanzler Olaf Scholz allem Anschein nach nicht. Dafür hat er genug energiepolitische Altlasten von seinen deutschen Amtsvorgängern geerbt, bei denen einem mit Blick auf den anstehenden Winter ziemlich frösteln kann. Was immer man auch über das Taktieren des Kanzlers bei Waffenlieferungen an die Ukraine denken mag, die devote Erleichterung für den Erhalt einer gewarteten Turbine aus Kanada, die für die Funktionstätigkeit der Nord-Stream-Pipeline notwendig ist, lässt ahnen, wie geschwächt Scholz geopolitisch ist. Längst fragt man sich im Ausland, wie "zuverlässig" er sei. Kann man sich nur bei Sanktionsbrüchen auf ihn verlassen?
Bei derart labil wirkenden westlichen "Leadern" besteht für Wladimir Putin eigentlich kein Grund, auf weitere Drohgebärden zu verzichten oder diese eines Tages vielleicht sogar noch zu steigern.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.