Der erste Juli kam und nichts geschah. Im Koalitionsvertrag der israelischen Regierung ist dieses Datum als erstmöglicher Zeitpunkt definiert für die Annexion von Teilen des Westjordanlandes. Doch bereits einen Tag zuvor signalisierte Premierminister Benjamin Netanjahu, dass die Beratungen mit der US-Regierung über diesen Schritt erst „in den kommenden Tagen“ zu einer Entscheidung führen werden. Ein enger Vertrauter des Premiers sagte am selben Tag, dass die Annexion möglicherweise bis Ende Juli warten müsse und Energieminister Yuval Steinitz, deutete gar kann, dass es noch „Monate“ dauern könnte.
Kushner will eine langsame Annexion der kleinen Schritte
Israels Annexionspläne werden von einem Großteil der internationalen Gemeinschaft abgelehnt, von den arabischen Staaten wie der Europäischen Union. Allein die gegenwärtige Regierung der USA, deren Friedensplan die Annexion von bis zum 30 Prozent des Westjordanlandes durch Israel vorsieht, war bisher ein Befürworter dieses unilateralen Schrittes. Donald Trumps Sonderbeauftragter für den Friedensprozess, Jared Kushner, ist nun jedoch besorgt, dass eine weitgehende Annexion die Palästinenser vom Verhandlungstisch fernhalten und die Zusammenarbeit mit den Golfstaaten behindern könnte. Er bevorzugt momentan eher eine langsame Annexion der kleinen Schritte. Doch aus israelischer Sicht ist nicht die Reaktion der Palästinenser oder der Golfstaaten entscheidend, sondern ein sorgenvoller Blick auf die Situation in den USA.
Das Missmanagement der Coronakrise dort und die anhaltenden Demonstrationen gegen Rassismus haben selbst im Bundesstaat Texas, einer Hochburg der Republikaner, zu einem Vorsprung des voraussichtlichen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden in den Wahlumfragen geführt. Mit Sorgen wird daher gegenwärtig in Jerusalem auf die USA-Wahlen im November geblickt. Denn 79 Prozent der demokratischen Wählerschaft sind gegen eine Annexion von Teilen des Westjordanlands durch Israel. Bidens Partei hat sich auch deutlich gegen einen solchen unilateralen Schritt positioniert: Am vergangenen Wochenende haben demokratische Senatoren einen Änderungsantrag zum National Defense Authorization Act vorgelegt, der in der Präsidentschaft Barack Obamas federführend von Joe Biden ausgearbeitet worden ist. Der Änderungsantrag sieht vor, dass von den 3,8 Milliarden US-Dollar Militärhilfe, die von den USA jährlich an Israel gezahlt werden, keine Gelder für die Annexion von Teilen des Westjordanlandes verwendet werden dürfen. Mit deutlichen Worten erklärte Senator Chris Van Hollen die Absicht des Änderungsantrags: „Weder die US-Regierung noch die amerikanischen Steuerzahler sollten diesen einseitigen Schritt, der unseren gemeinsamen demokratischen Werten zuwiderläuft, finanzieren oder erleichtern.“ Bereits im Mai hatte Biden seine eigene Position formuliert: „Ich unterstütze die Annexion nicht. Israel muss die Drohungen mit der Annexion stoppen und die Siedlungsaktivitäten einstellen, weil dadurch jede Hoffnung auf Frieden erstickt wird.“
Biden unterstützt Annexion des Westjordanlands nicht
Auf der anderen Seite des politischen Systems befürworten gegenwärtig 56 Prozent der republikanischen Wählerschaft, insbesondere evangelikale Christen, die Annexion. Mike Evans, eine der führenden Persönlichkeiten der evangelikalen Szene und ein enger Vertrauter von US-Außenminister Mike Pompeo, erklärte vergangene Woche öffentlich, dass die Wiederwahl Donald Trumps von seiner Zustimmung zu der Annexion abhängig sei: „Unsere Unterstützung für ihn ist entscheidend, und ohne uns kann er die Wahl nicht gewinnen", betonte Evans. „Wir unterstützen zu 100 Prozent die Durchsetzung der israelischen Souveränität in der Region. Unsere Unterstützung dafür begann nicht erst mit Trump, sondern mit unserer Bibel, weil wir glauben, dass Gott sich vor Tausenden von Jahren entschieden hat, die Souveränität durchzusetzen, und dies den Propheten des jüdischen Volkes verkündet hat.“
Eine mögliche Belastung des Verhältnisses zum Partner USA durch solche Souveränitätsfragen ist für Israel nicht neu. Bereits als Israel 1981 seine Oberhoheit über die im Sechstagekrieg eroberten Golan-Höhen an der Grenze zu Syrien erklärte, geschah dies gegen den Widerstand der USA. Israel hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es auch im Sinne seines nationalen Interesses selbst gegen enge Verbündete handeln kann. Benjamin Netanyahu bevorzugt zwar die US-Regierung an seiner Seite – aber im Falle der Annexionspläne spielt eine weitere Dimension eine entscheidende Rolle. Während der Premier von einer „historischen Gelegenheit“ spricht, wird in Sicherheitskreisen in Israel die Annektierung des Jordantals und somit eines Großteils der Grenze zu Jordanien vielmehr als eine „historischen Notwendigkeit“ bezeichnet. Bereits seit der Präsidentschaft Barack Obamas und auch während der bisherigen Regierungszeit Donald Trumps ziehen sich die USA als Ordnungsmacht zunehmend aus dem Nahen Osten zurück. Gradmesser dafür sind etwa die sinkende Zahl der Truppenkontingente. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, sei es mit einem demokratischen oder republikanischen Präsidenten. Stattdessen sind in der Region nun Russland, China, die Türkei und der Iran im Vormarsch. In dem sich drastisch verändernden Nahen Osten ist Israel also auf der Suche einer neuen Sicherheitsstrategie, die in Zukunft nicht mehr auf einer Pax Americana basieren wird.
Rolle der USA wird immer geringer werden
Auf dem Weg zu diesem Ziel ist für einen Großteil der israelischen Sicherheitskreise die Annexion der Siedlungen nicht der entscheidende Punkt, sie wollen die Kontrolle über das Jordantal als Staats- und Grenzgebiet. Es bedürfe, so die Argumentation, einer umfassenderen israelischen Kontrolle über das Westjordanland. Denn nur so könnten die immer stärker werdenden Feinde von Ankara bis Teheran davon abgehalten werden, das israelische Kernland der Küstenebene direkt zu bedrohen. Es gibt jedoch auch gewichtige Stimmen, die betonen, dass die Annexion des Jordantals zu keiner positiven Veränderung der Sicherheitslage gegenüber der gegenwärtigen Besatzung führen werde. Denn de facto befände sich das Jordantal bereits jetzt vollständig unter israelischer Kontrolle.
Unabhängig davon wie die Wahl ausgehen wird, eines zeigt sich jetzt schon: Die USA werden für die Zukunft Israels und der Region zunehmend keine Rolle mehr spielen – egal ob unter Trump oder Biden.
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