Der Wahlausgang in Brasilien zeigt insbesondere ein zutiefst gespaltenes Land: Bei der am Sonntag durchgeführten Stichwahl errang der 76-jährige Luiz Inácio Lula da Silva 50,90 Prozent (gut 60 Millionen), der bisherige Präsident Jair Bolsonaro 49,10 Prozent (mehr als 58 Millionen) der abgegebenen Stimmen. Damit kehrt der linke Politiker, der bereits von 2002 bis 2010 das Präsidentschaftsamt bekleidete, für eine dritte Amtsperiode zurück.
Die Spaltung des mit 213,91 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten, aber auch flächenmäßig größten Land Südamerikas zeigt sich nicht nur in dem denkbar knappen Sieg Lula da Silvas – zum Vergleich: 2006 hatte Lula seine zweite Amtsperiode mit einem Stichwahlsieg von 61 zu 39 Prozent begonnen, Jair Bolsonaro gewann die Stichwahl 2018 mit 55 zu 45 Prozent. Darüber hinaus gewann bei den Gouverneurswahlen in São Paulo, dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Bundesstaat Brasiliens, Tarcisio de Freitas, der Kandidat Bolsonaros, mit deutlichem Zehn-Punkte-Unterschied gegen Lulas Kandidat Fernando Haddad. Der wichtigste der 26 Bundesstaaten bleibt in den nächsten vier Jahren eine Hochburg des Bolsonarismus.
Ein weiterer Sieg für die politische Linke in Südamerika
Dazu kommt, dass Lula da Silva weder im Bundessenat noch in der Abgeordnetenkammer – den zwei Kammern der Legislative, des Nationalkongresses – die Mehrheit besitzen wird. In der Abgeordnetenkammer übt die tatsächliche Macht „Centrâo“ aus, ein Block aus mittleren und kleineren Parteien, die den jeweiligen Präsidenten im Austausch für Gegenleistungen unterstützt. Die ersten Herausforderungen für den Wahlsieger bestehen darin, ein Land wieder aufzubauen, das durch den am stärksten polarisierten Wahlkampf der Geschichte entzweit ist, sowie darin, die erforderlichen Mehrheiten im Nationalkongress zu bekommen.
Der Wahlsieg Lula da Silvas, der im Juli 2017 wegen Korruption verurteilt wurde, folgt den Siegen weiterer linken Politiker in Südamerika: Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien. Damit wird Südamerika in den kommenden Jahren – mit Ausnahme von Paraguay, Uruguay und Ecuador – von Präsidenten regiert, die im sogenannten „São-Paulo-Forum“ zusammengeschlossen sind. Die Ziele des Forums bestehen neben dem „Kampf gegen den Imperialismus als politischen und militärischen Ausdruck der transnationalen Konzerne und des Kapitals, als gemeinsamen Feind unserer Völker“ auch im „Kampf gegen Patriarchat, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kriminalisierung von Migration und generell gegen jede Form von Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung“.
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