Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Interview mit Nahost-Experten

Der Libanon: „Korrupt und unrettbar“

Nahost-Experte Stefan Maier erklärt im Gespräch, warum der Libanon – einst die „Schweiz des Orient“ – immer fragiler wird.
Israelischer Luftangriff im Libanon
Foto: IMAGO/Ali Hashisho (www.imago-images.de) | Israelischer Luftangriff im Libanon: "Jeder träumt davon, das Land zu verlassen", meint Nahost-Experte Stefan Maier.

Herr Maier, der Libanon war schon vor dem 7. Oktober 2023 am Rande des wirtschaftlichen und politischen Kollaps. Wie wirkt sich der nun sechsmonatige Krieg Israels gegen die Hamas auf den Libanon aus?

Der Libanon ist seit längerer Zeit auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat, einem „failed state“. Die Lage ist schon lange prekär: Es gibt keine funktionierende Regierung; man einigte sich nicht auf einen neuen Staatspräsidenten nach dem Auslaufen der Amtszeit des Vorgängers. Der Libanon wird schleichend immer fragiler, auch weil jetzt die Kampfhandlungen der schiitischen Hisbollah mit Israel im Süden des Landes intensiviert werden. Es gibt auf libanesischer Seite schon mehr als 200 Todesopfer. Und die Libanesen haben riesige Angst, dass sie ganz in diesen Krieg hineingezogen werden.

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Die Hisbollah, die Miliz und Partei zugleich ist, attackiert Israel vom Libanon aus. Wem gehört ihre Loyalität: auch dem Libanon und seiner schiitischen Bevölkerungsgruppe – oder nur dem Iran?

Gewiss nicht dem Libanon als Staat. Der wird nur nach Belieben benutzt. Angesichts ihrer Stärke könnte die Hisbollah, wenn sie wollte, den Staat binnen 48 Stunden übernehmen. Sie hat bereits einmal in der Vergangenheit die Waffen gegen die eigenen Landsleute gerichtet. Die Hisbollah verteidigt die eigenen Interessen und die des Iran. Leider benutzt sie auch christliche Dörfer im Süden des Libanon: Wenn sie von dort aus Raketen nach Israel abfeuert, treffen die israelischen Vergeltungsschläge diese christlichen Dörfer – und nicht die der Schiiten. Wo Raketen herkommen, dorthin wird geschossen. So werden die Christen zu Opfern dieses ständigen Kleinkrieges.

"Wo Raketen herkommen, dorthin wird geschossen.
So werden die Christen zu Opfern dieses ständigen Kleinkrieges"

Der Iran missbraucht Syrien und den Libanon als Aufmarschgebiet, und durch Israels Gegenschläge werden beide Länder zur Kampfzone. Warum lassen das Damaskus und Beirut zu?

Der Iran und die Hisbollah hatten und haben alles Interesse, dass Bashar al-Assad an der Macht bleibt, denn nur so ist der Versorgungsweg zwischen ihnen gesichert. Deshalb ist die Hisbollah auf iranischen Wunsch in Syrien aktiv geworden. Inzwischen allerdings ist Syrien so schwach, dass es immer mehr zum Kampfgebiet anderer Kräfte wurde. Man darf nicht übersehen, dass die Hisbollah über ein gewaltiges Raketen- und Waffenarsenal verfügt, welches dem der Hamas bei weitem überlegen ist. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war gewiss nicht mit der Hisbollah abgestimmt, denn wenn es auch aus dem Libanon Raketen geregnet hätte, wäre Israels Abwehrschirm „Iron Dome“ wohl überfordert gewesen. Bisher tut die Hisbollah nur das, was sie tun muss, um das Gesicht nicht zu verlieren, aber ein strategisches Vorgehen sähe anders aus.

Werden Israel und der Iran bei wechselseitigen Nadelstichen bleiben? Oder droht nun der offene Krieg?

Jede Aktion löst eine Gegenreaktion aus. Die Gefahr einer Eskalation oder Kettenreaktion ist dabei natürlich immer gegeben.

Stefan Maier, ICO
Foto: Stephan Baier | Auf 140 Nahost-Reisen kommt der Projektkoordinator der „Initiative Christlicher Orient“ (ICO), Stefan Maier, mittlerweile.

Sitzen die Orient-Christen jetzt endgültig zwischen allen Stühlen? Haben sie noch eine Alternative zur Emigration?

Am offensichtlichsten ist es im Süden des Libanon. Die Christen hier sind vom ständigen Kleinkrieg unmittelbar betroffen. Viele Häuser wurden beschädigt, die Landwirte können ihre Felder nicht mehr bestellen, etliche Familien flohen nach Beirut. Niemand kann sich hier noch sicher fühlen. Der Trend zur Emigration ist schon lange stark, nicht zuletzt wegen der Wirtschaftskrise, aber jetzt könnte er weiter wachsen. Allerdings bekommt im Libanon nur noch einen Pass, wer ein gültiges Flugticket vorweisen kann. Die Christen emigrieren besonders leicht, weil sie überdurchschnittlich gebildet sind und fast alle im Ausland Freunde oder Verwandte haben. Jeder träumt davon, das Land zu verlassen. Wer heute im Libanon keinen Zugang zu US-Dollar hat, ist aufgeschmissen. Die Inflation beträgt 173 Prozent, aus dem öffentlichen Netz kommt kaum noch Strom, die Arbeitslosigkeit ist exorbitant hoch, Medikamente sind unerschwinglich. Ohne die Diaspora und ihre Überweisungen wäre das Land längst zusammengebrochen. So schlimm wie jetzt war es noch nie. Wenn mir jemand vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass wir Suppenküchen im Libanon betreiben und Lebensmittelpakete verteilen müssen, hätte ich das nicht für möglich gehalten.

"Ohne die Diaspora und ihre Überweisungen
wäre das Land längst zusammengebrochen.
So schlimm wie jetzt war es noch nie"

Gäbe es nicht eine geschichtliche Verpflichtung Europas, insbesondere Frankreichs, dem Libanon zu helfen?

Diese spezielle Verbindung gibt es immer noch. Man muss auch sagen, dass der französische Präsident Emmanuel Macron nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut im August 2020 der einzige Politiker war, der in die zerstörten Viertel gegangen ist und mit den Betroffenen sprach. Dort hat sich bis heute kein libanesischer Politiker blicken lassen. Paris weiß um seine besondere Verantwortung, insbesondere für die Maroniten. Der libanesische Staat ist jedoch so korrupt und unrettbar, dass die EU heute eigentlich nur noch die Zivilgesellschaft unterstützen kann.

Der Iran missbraucht den Libanon und Syrien, nur Jordanien scheint seine Souveränität noch zu wahren.

Jordanien ist bisher eine Insel des Friedens inmitten von Chaos und Krieg. Hoffen wir, dass das hält, denn im Nahen Osten ist ein Land nach dem anderen ruiniert worden. Libyen war einst das reichste Land Nordafrikas – heute herrschen Chaos und Anarchie. Der Irak hatte die besten Krankenhäuser und Universitäten – heute ist das Land auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes. Syrien und der Libanon wurden ebenfalls zugrunde gerichtet. Und im aktuellen Krieg in Gaza ist kein Ende abzusehen.

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