Herr Maier, der Libanon ist in der Dauerkrise. Wie stellt sich die wirtschaftliche Lage dar?
Der Libanon ist ein Land im freien Fall. Es wird immer dramatischer. Ein Großteil der Bevölkerung – etwa 70 bis 80 Prozent – ist unter der Armutsgrenze. Es gibt fast keine Medikamente mehr im Land, und die wenigen sind unerschwinglich. Strom gibt es allenfalls eine Stunde pro Tag. Treibstoff ist fast nicht zu bekommen, und wenn dann nur zu Wucherpreisen.
Einst galt der Libanon als „Schweiz des Ostens“. Wie kann ein Land mit so hohem Bildungsniveau derart verfallen?
Das stimmt, es gibt kaum ein Land auf der Welt mit einer so hohen Dichte an Universitäten. Der Libanon ist flächenmäßig kleiner als Tirol, verfügt aber über 40 Universitäten. Das Problem ist, dass das Land eine Abfolge von Krisen und Katastrophen durchlebt hat. Begonnen hat es mit dem Kriegsausbruch in Syrien 2011, der die größte Flüchtlingstragödie der modernen Geschichte ausgelöst hat. Der Libanon hatte zeitweise bis zu zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Viele ließen sich nicht registrieren, sondern tauchten in der Gesellschaft unter. Der Krieg in Syrien hat zum Zusammenbruch des Tourismus im Libanon geführt. Dadurch hat sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Das Land wurde von syrischen Flüchtlingen überschwemmt, was den Libanon vor unlösbare Probleme stellte. Das Schulsystem konnte Hunderttausende syrischer Flüchtlingskinder nicht integrieren. Offiziell durften die Syrer nicht arbeiten, tatsächlich schufteten sie – einschließlich Frauen und Kindern – zu Hungerlöhnen. Dazu kommt ein demografisches Problem: Jedes Jahr werden im Libanon mehr syrische als libanesische Kinder geboren. Die Versorgung der Flüchtlinge war immer unzureichend, wodurch auch die Kriminalität stieg.
Das Fassungsvermögen des Libanon wurde also überfordert?
Viele Flüchtlinge hatten zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben. Das war einer der Auslöser der Flüchtlingswelle nach Europa 2015. Die Menschen wussten, dass die Flucht lebensgefährlich sein würde, aber zurück nach Syrien konnten sie nicht und im Libanon ließ die internationale Hilfe nach. Mit der Hoffnungslosigkeit wuchs die Bereitschaft zur Flucht nach Europa.
Nicht alle Probleme des Libanon haben mit dem Syrien-Krieg zu tun.
Man muss leider sagen, dass der Libanon von einer durch und durch korrupten politischen Kaste regiert wird, die es zu weit getrieben hat. Das Vermögen in den Banken wurde gestohlen und ins Ausland transferiert. Der Klientelismus ist in der DNA der libanesischen Gesellschaft. Ich erinnere nur an einen früheren Gesundheitsminister, der bei seinem Amtsantritt sagte, man solle von ihm nichts erwarten, weil sein Vorgänger die Kasse des Ministeriums geplündert habe. Er müsse also bei Null anfangen. Das hatte für den Vorgänger damals keinerlei Folgen! Im Libanon wird man Minister, um Jobs an die eigene Familie und an Freunde zu vergeben und um sich zu bereichern. Dadurch kam es letztlich zu einer Bankenkrise. Die Menschen kommen jetzt nicht mehr an ihre Bankguthaben heran. Das führt dazu, dass auch jene, die noch einen guten Job haben, über ihr Geld nicht mehr verfügen.
Das libanesische Proporz-System schien lange der beste Schutz für die Minderheiten zu sein, etwa für die Christen, die nur mehr 30 Prozent der Bevölkerung stellen. Ist dieses System jetzt gescheitert?
Ja, zumindest was die Kleptomanie betrifft. Die Jugend wendet sich angewidert ab und kämpft für ein laizistisches System. Sie will, dass Jobs nicht mehr nach Proporz, also nach konfessionellen Kriterien, vergeben werden, sondern nach Qualifikation. Aber die herrschende Klasse, die auf ihren Privilegien sitzt, hat ihre Vermögen und vielfach ihre Familien längst im Ausland. Die leben, abgesichert durch Security, in einer Blase. Sie ruinieren das Land um der eigenen Privilegien willen.
Nun aber scheint der Libanon vor dem Staats-Kollaps zu stehen.
Genau. Die Bankenkrise hat eine Wirtschaftskrise ausgelöst. Früher gingen rund 70 Prozent aller schulpflichtigen Kinder auf Privatschulen, heute kommen die Eltern nicht an ihr Erspartes und können das Schulgeld nicht bezahlen. Wer nur 100 Dollar pro Monat zur Verfügung hat, kann auch seine Miete nicht zahlen. Die Folge ist die schlimmste Wirtschaftskrise in der jüngeren Geschichte des Libanon und laut Weltbank eine der fünf schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit seit 1850. Der Libanon ist auf dem Weg, ein gescheiterter Staat zu werden – wie Somalia oder Venezuela. Wenn die Regierung demnächst die Gehälter nicht mehr zahlen kann, droht der Zusammenbruch.
Stehen die Libanesen also vor der Alternative: Emigration oder Revolution?
Auf diesen Nenner kann man es bringen. Hunderttausende sind bereits auf die Straße gegangen. Über Wochen wurden Hauptverkehrsadern blockiert. Dann kam die Corona-Pandemie, und die Luft war raus. Seither geht es um den Kampf ums tägliche Überleben. Heute hat der Libanon eine Hyperinflation, die nur von Venezuela übertroffen wird. Die Lebensmittelpreise steigen ins Unermessliche. Noch vor wenigen Jahren dachte man beim Libanon an volle, sich biegende Tische. Heute finanzieren wir als ICO Schul-Ausspeisungen und Suppenküchen. Jedes dritte Kind im Libanon geht abends hungrig ins Bett! Früher hatten wir als ICO einen Schul- und Bildungsschwerpunkt im Libanon, heute geht es um Nothilfe.
Wächst die Emigration?
Manche drängen neuerdings über das Meer nach Zypern. Bisher greifen die zypriotischen Behörden dagegen radikal durch. Mittlerweile ist der Libanon so pleite, dass der Staat kein Geld mehr hat für die Herstellung von Pässen. Jetzt bekommt nur mehr einen Pass, wer bereits ein bezahltes Flugticket vorweisen kann. Trotz allem sind das jeden Tag Hunderte – vor allem gut ausgebildete, junge Leute. Libanesen gibt es ja überall auf der Welt: 15 Millionen Libanesen leben irgendwo auf der Welt, vier Millionen im Libanon. Emigranten können deshalb überall gut andocken.
Wird es im Libanon zu Unruhen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen?
Es überrascht mich, dass es dazu noch nicht gekommen ist. Ein Auslöser kann in Zukunft durchaus die Armut, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sein: Dann genügt ein Funke, und die Situation eskaliert. Bezeichnend für die Situation war die große Explosion im Hafen von Beirut, wo im August 2020 eine Schiffsladung voll hochgiftiger Chemikalien eingelagert und vergessen worden war. Sie gilt als die bisher größte nichtatomare Explosion: Ein Kreuzfahrtschiff ist gesunken, das größte Getreidesilo des Landes und mehrere Krankenhäuser wurden vernichtet, der Hafen glich einem Schlachtfeld. Es gab mehr als 200 Tote und 6.500 Schwerverletzte. Unzählige Häuser stürzten ein. Vieles im Stadtzentrum wurde zerstört. Der letzte Sargnagel für ein am Abgrund stehendes Land!

Viele Staaten mischen im Libanon mit ihren eigenen Interessen mit, etwa der Iran über die schiitische Partei Hisbollah und ihre Miliz. Welche Rolle spielt das Ausland?
Für viele Christen ist das einer der Hauptgründe: Sie machen den iranischen Einfluss und die Hisbollah für vieles verantwortlich. Der Libanon war aber immer schon ein Spielball der Mächtigen. Gleichzeitig ließen sich die Libanesen immer schon je nach Konfession auseinanderdividieren und missbrauchen als Sprachrohre und Akteure der verschiedenen Seiten. Das begann bereits in der osmanischen Zeit: Die Engländer haben die Drusen protegiert, die Franzosen die Maroniten, die Russen die Orthodoxen… Der Libanon war immer schon ein Schauplatz von Stellvertreterkriegen.
Welche Auswirkungen hätte ein Staats-Kollaps des Libanon auf die Region?
Der östliche Mittelmeerraum ist die unmittelbare Nachbarschaft Europas. Wenn die Menschen den Libanon fluchtartig verlassen, können sie nur nach Europa. Die Grenze zu Israel ist hermetisch abgeriegelt, nach Syrien zieht es niemanden. Also übers Meer nach Zypern! Im Libanon leben gut vier Millionen Libanesen, mindestens eine Million Syrer und 200.000 Arbeitsmigranten. Wenn diese Menschenmasse sich in Bewegung setzt, stellt das 2015 in den Schatten. Niemand kann ein Interesse daran haben, das Szenario von 2015 zu wiederholen.
Sind heute nicht neuerlich die Christen im Libanon am verwundbarsten?
Jedenfalls haben sie dieses Gefühl. Vermutlich stimmt es auch, denn nur noch die Franzosen interessieren sich heute für die Christen im Libanon. Sie haben allerdings nur mehr beschränkten Einfluss.
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