Seit einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Nachdem sich die allgemeine Erwartung, dass der Aggressor den Krieg schnell für sich würde entscheiden können, als irrig erwiesen hatte, zeigte sich in Deutschland ein erstaunliches Phänomen: 83 Millionen Virologen verwandelten sich praktisch über Nacht in 83 Millionen Militärstrategen. Die Coronapandemie hätte eigentlich als warnendes Beispiel dafür dienen können, wie Debatten nicht geführt werden sollten.
Diese Art der Meinungsbildung ist irritierend und schädlich
Aber offensichtlich haben die Deutschen Gefallen daran gefunden, sich nicht sachlich auszutauschen, sondern in kürzester Zeit eine Meinungshegemonie herzustellen. Als Antwort wird ein Gegennarrativ etabliert, das zwar vielstimmiger ist, dafür aber von Verschwörungstheorien und Aluhüten nur so wimmelt. Bloß keine Zwischentöne.
Diese Art der Meinungsbildung ist irritierend und schädlich. Keineswegs soll russische Propaganda unwidersprochen hingenommen werden. Sie ist gefährlich und gehört bekämpft. Die naive Wiederbelebung des wohlfeilen antiamerikanischen Reflexes der Friedensbewegung darf abgelehnt werden. Doch es geht zu weit, Pazifismus einfach mit russischer Propaganda gleichzusetzen: Die friedensbewegte Szene gab es schließlich ununterbrochen; sie war auch während der Kriege in Irak und Afghanistan aktiv und ist keine Erfindung Putins.
Öffentliche Meinung hat sich mit Argumenten zu behaupten
Die Ansicht, dass sie ihm indirekt in die Hände spiele, kann auch ohne Schaum vor dem Mund und moralische Keulen geäußert werden – abgesehen davon, dass Menschen, die mit Bannern und Trommeln auf Marktplätzen demonstrieren, in Deutschland nun wirklich nicht die Entscheider sind! Dass in diesem Milieu manch einer völlig unbeeindruckt von Fakten bleibt, ist wenig verwunderlich, schließlich war Pazifismus bis vor Kurzem selbst noch ein beinahe unangefochtenes Prinzip, das die öffentliche Meinung beherrschte; unbelehrbar altmodische Befürworter der Wehrpflicht konnten sich außerhalb bestimmter „Bubbles“ auf massive Gegenrede einstellen.
Auch wenn Kulturschaffende und Teile der Eliten einen offenen Brief schreiben, der sich gegen Waffenlieferungen wendet, ist dies kein Grund für eine Überdosis Moralin. Sie sind dazu berechtigt, so zu denken. Angst vor einem dritten Weltkrieg kann man äußern oder ernst nehmen, ohne deshalb einer fünften Kolonne zugerechnet zu werden. Wer solches ausspricht, nimmt keinesfalls Partei für die entsprechende Position, sondern für ein Klima der Meinungsfreiheit, in dem sich die öffentliche Meinung mit Argumenten zu behaupten hat, nicht mit moralischer Überlegenheit. Dies gilt selbstredend auch für die Gegenseite.
Jede Position oder Nichtposition ist eine Entscheidung
Wenn nur zwei Standpunkte denkbar sind, und sich jeder eindeutig einem der beiden zuordnen muss, können Nuancen und unterschiedliche Beweggründe nicht mehr diskutiert werden. Wer Schwierigkeiten hat, eine klare Haltung zu postulieren, landet umgehend im „Lager“ der Gegner des Mainstreams, ob er will oder nicht. Auch Ratlosigkeit, Ahnungslosigkeit und schlichtes Unwissen stehen unter Generalverdacht, lediglich eine verschleierte Form der Unterstützung Putins zu sein.
Flugzeuge oder Panzer für die Ukraine: Hier gibt es mehr als ein Dafür und ein Dagegen. Da gibt es auch „Ich weiß es nicht.“, oder „Ich kann nicht abschätzen, was dann geschehen wird“. In einem Krieg gibt es zu viele Akteure, um zu wissen, was „richtig“ ist. Auch unsere Politiker und Militärexperten (die echten) wissen es nicht. Für jene, die Verantwortung tragen, ist jede Position oder Nichtposition eine Entscheidung. Das ist wohl kaum beneidenswert. Alle anderen haben ein Recht darauf, keine Meinung zu haben.
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