Seit Homer kennen wir das Schicksal Kassandras und Laokoons. Vergebens hatten sie gewarnt, die Mauern Trojas zu schleifen ohne den Inhalt des geheimnisvollen hölzernen Pferdes zu kennen. Aber verhängnisvolle Illusionen veranlassten Führung und Volk, blind den Weg in die Katastrophe zu gehen. Der Fall von Kabul hat ein vergleichbares Versagen der politisch Verantwortlichen in Deutschland offenbart.
Absehbare Folgen
Sie sahen sich nicht einem unvorhersehbaren Naturereignis gegenüber, sondern wurden mit den Folgen und dem absehbaren Ergebnis eines nahezu zwanzigjährigen Krieges konfrontiert. In hohen und höchsten Ämtern hatten sie ihn bedient, begleitet und immer wieder auf der Bühne öffentlich als Erfolg gepriesen. Die warnenden Stimmen des Chores im Hintergrund wurden nicht gehört, stattdessen im vermeintlichen Interesse eines harmonischen innenpolitischen Diskurses zum Schweigen veranlasst.
Zu den Mitgliedern des mahnenden Chores gehörten Deutsche und Afghanen, die teilweise unter großen persönlichen Opfern in den Bergen und Steppen Afghanistans ihre Arbeit leisteten. Soldaten, die nach ihrer Rückkehr von den Politikern, die sie in den Einsatz sandten, nicht gehört wurden. In die Reihen des Chores traten auch außergewöhnlich ernsthafte Parlamentarier, die vergebens die Realität Afghanistans zu vermitteln suchten.
Überforderte Protagonisten
Doch die Krisis der Gegenwart wird offenkundig weder durch einen „deus ex machina“ noch durch die in sie verstrickten politischen Akteure und Interessen gelöst. Vergleichbare Szenarien sehen wir in Mali, am Horn von Afrika und im gesamten Nahen und Mittleren Osten. An dieser Stelle des Schauspiels stellt sich die Frage, ob die politischen Akteure unserer Republik den Krisen der Zukunft gewachsen sind. Wer sie immer noch voller Zuversicht mit „Ja!“ beantwortet, verschließt wie einst die Trojaner vor der Wirklichkeit existentieller Bedrohungen und der Schwäche des handelnden Personals die Augen.
Der Autor war von 2006 bis 2008 deutscher Botschafter in Afghanistan.
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