Wenn Menschen aus Lust oder Rache töten, einfach willkürlich, nennen wir sie Mörder oder Amokläufer. Töten Menschen nach Plan und aus festen Überzeugungen, verbunden mit einer heroischen Selbstüberhöhung, sprechen wir von Terroristen. Wir fragen uns unwillkürlich: Wie konnte es passieren, dass eine offenbar kranke Idee umgesetzt wurde? Welche Botschaft liegt solchen Taten zugrunde? Geht es um einen destruktiven oder revolutionären Impuls? Lassen sich im sozialen Umfeld Spuren finden? Generell: Was hätte die Gesellschaft tun können, um das zu verhindern? Warum griffen die Mechanismen eines Frühwarnsystems im sozialen Umfeld nicht? Warum sind die Sicherheitsbehörden nicht rechtzeitig eingeschritten? Diese Fragen kamen auch nach dem Anschlag auf die Einrichtung der Zeugen Jehovas in Hamburg am vergangenen Donnerstag auf.
Immer mehr Attentate auch in Deutschland
Wie wird die Debatte in Deutschland über solche Anschläge geführt? Die Fernsehkameras zeigen, oft sensationsheischend, das Ausmaß an Verzweiflung und Zerstörung. Aus der Medienlogik heraus heißt es nicht selten: „Was kümmert mich der Anschlag von gestern?“ Dabei mehren sich die Gewaltexzesse, die oft in den USA vermutet werden. Dort gibt es tatsächlich, auch verstärkt durch den leichten Erwerb von Waffen, regelmäßig Anschläge an Schulen (school shootings). Erinnert sei etwa an die Taten von Columbine im Jahr 1999, als zwei Schüler dort ein Massaker an ihrer Schule anrichteten. Aber auch Deutschland ist von Gewaltexzessen nicht verschont.
Im Gegenteil es drängt sich der Eindruck auf, dass sich solche Taten häufen. Das liegt wohl auch am virtuellen Zeitalter, in dem sich Menschen selbst radikalisieren können und mehr noch, Waffen über das Darknet erwerben oder sich selbst über den 3-D-Drucker basteln können. Letzteres zeigte die Tat von Halle, als ein 27-jähriger am 9. Oktober 2019 an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in eine Synagoge eindringen wollte.
Behörden haben Gefahr nicht erkannt
Fantasierte religiöse Motive können also bei solchen Gewaltexzessen durchaus eine Rolle spielen, wie wir auch durch islamistisch motivierte Anschläge wissen. Im deutschen Kontext sorgte der Fall von Anis Amri für ein Menetekel. Der Täter, als angeblicher Flüchtling nach Deutschland gekommen und mit vielen Identitäten ausgestattet, verschwand vom Radar der deutschen Behörden.
Das neu installierte Gemeinsame Terrorabwehrzentrum stufte den späteren Terroristen, der mit einem gekaperten LKW auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche 2016 schließlich 13 Menschen ermordete, vor der Tat als professionellen Drogendealer und damit als harmlos ein.
Täter handelte im religiösen Wahn
Zurück zum Hamburger Fall. Was ist dort geschehen? Im Hamburger Stadtteil Groß Borstel ereignete sich Donnerstagabend in einer Einrichtung der Zeugen Jehovas ein Blutbad. Dabei wurden acht Menschen getötet und acht weitere zum Teil schwer verletzt. Tatort war der „Königssaal“ in der Einrichtung. Ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas, Philipp F., vollzog einen Racheakt und richtete sich anschließend selbst.
Der 35-jährige Täter handelte offenbar im religiösen Wahn. Auch das ist typisch für diesen Tätertypus, der mitunter als „einsamer Wolf“ beschrieben wird. Ein gewisser Größenwahn ist hierfür typisch, die Mischung aus persönlichen Kränkungen und politischen wie religiösen Motiven. Der Täter gab auf seiner Website an, als Unternehmensberater einen Tagessatz von 250 000 Euro plus Steuern zu verdienen. In seinem, auch kurz vor der Tat beworbenen Buch schreibt er von seiner „persönlichen Höllenreise“ und „prophetischen Träumen“, die er gehabt habe.
Schwere psychische Auffälligkeiten
Geradezu besessen war Philipp F. vom Thema Prostitution. Diese müsse überall bekämpft werden. Gott bediene sich der russischen Armee, um das Volk der Ukraine zu bestrafen, da Ukrainerinnen als Sexarbeiterinnen tätig gewesen seien. Gott hasse zudem Homosexualität, schreibt er. Weiter heißt es: „Dank einer umfangreichen theologischen Fundierung“ sei es ihm möglich, „entscheidende Impulse“ zu geben.
Hier scheinen auch schwere psychische Auffälligkeiten vorzuliegen, die zwar nach einem Frühwarnsystem verlangen, denen aber in der Praxis schwer zu begegnen ist. Aufgewachsen ist der Täter in Kempten, er hat studiert. Auffälligkeiten, die es nach Einschätzung von führenden Kriminologen immer gibt, sind wie häufig im familiären Umfeld zu suchen. Professionelle Hilfe ist oft mit Präzedenzfällen konfrontiert.
Die Schwierigkeit der Prävention
Im Fall des Täters etwa, der am 22. Juli 2016 am Münchener Olympiaeinkaufszentrum acht Menschen ermordete, wurde zuvor Eigengefährdung, aber keine Fremdgefährdung diagnostiziert. Eine Gesellschaft muss sich immer wieder auch hinterfragen, ob und wie derartige Taten zu verhindern sind, welche Ursachen auszumachen sind. Operativ lassen sich solche Fragen leichter klären, wenn etwa nach einem schärferen Waffengesetz gerufen wird. Der Täter von Hamburg war Sportschütze, hatte eine Waffenbesitzkarte und war erst kürzlich von der Waffenbehörde aufgesucht worden.
Gesellschaftlich stellt sich eher die Frage, ob derartige Täter nicht auch Kinder unserer Zeit sind, zumal sich Fragen der Selbstradikalisierung und der perfiden Umsetzung stellen.Politisch müssen immer auch Handlungsmöglichkeiten angeboten werden, die aber gerade bei Tätertypen, die polizeilich nicht „vorbelastet“ sind, kaum ziehen können. Dass die komplexen Motivbündel genauer betrachtet werden müssen, auch ein religiöser Fanatismus, steht dabei außer Frage. Die Antworten, wie solchen Gewaltexzessen zu begegnen, lassen sich gleichwohl schwer finden, auch nicht im religiösen Kontext.
Tätermotive finden, ohne zu pauschalisieren
Natürlich muss bei islamistisch motivierten Anschlägen über die potenziell zerstörerische Kraft von Religion diskutiert werden. In dem aktuellen Fall stellt sich die Frage, wie sich seine ehemalige Zugehörigkeit Zeugen Jehovas auf das Profil des Täters ausgewirkt hat, etwa ob ihm nach seinem Ausstieg Repressalien gedroht haben. Dennoch sollte und muss vor Pauschalisierungen gewarnt werden. Das gilt im Übrigen auch für Tätertypen, die vorgeben, aus politischen Motiven zu handeln.
Es ist wahrscheinlich, dass uns als Gesellschaft weitere Gewaltexzesse durch Amokläufe oder Terrorismus drohen. Umso wichtiger sind ein sinnstiftender Kitt und Solidarisierung, um den gefährlichen Trends der Individualisierung und der Destruktion zu begegnen. Diese Erkenntnis ist freilich keineswegs neu.
Der Autor veröffentlichte 2020 „Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“ (Hoffman und Campe).
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