Es war das Symbol für Stärke, Mut und Wertebewusstsein schlechthin: die Reise der Ministerpräsidenten von Polen, Tschechien und Slowenien nach Kiew - die Begegnung von Mateusz Morawiecki samt seinem Stellvertreter Jarosaw Kaczyski (Polen) sowie Petr Fiala (Tschechien) und Janez Jansa (Slowenien) mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im März dieses Jahres.
Während der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz noch zögerte und zauderte, bis zu welchem Grad man Sanktionen gegen Putins Russland einführen könne, und der Wahlkampf-führende französische Präsident Emmanuel Macron sich in einem peinlichen Foto-Shooting im sicheren Élysée-Palast wenigstens visuell als Held à la Selenskyj in Szene zu setzen versuchte, hatten die vier Osteuropäer einfach gemacht, was auch verantwortungsvoll agierenden westeuropäischen Verteidigern der Freiheit, der Demokratie und des Völkerrechts gut zu Gesicht gestanden hätte: Sie demonstrierten Selenskyj und dem ukrainischen Volk Solidarität und dem Despoten im Kreml, auf dessen bösen Willen hin die Ukraine am 24. Februar überfallen worden war, Widerstand und Entschlossenheit. Sie riskierten etwas.
Die Einheit hat Risse bekommen
Seit dieser Reise hat die viel zu schnell bejubelte Einheit des Westens als Reaktion auf die russische Invasion Risse bekommen. Man spürt: Das vor Jahren so häufig etikettierte "Europa der zwei Geschwindigkeiten" gibt es wirklich, doch die den Europäern in West und Ost (eigentlich Mitteleuropa!) zugewiesenen Rollen müssen nun völlig unterschiedlich interpretiert werden. Gut zu erkennen an den Besuchen westeuropäischer Politiker wie Ursula von der Leyen oder Karl Nehammer in Kiew. Wer so spät und nach der heißen Phase kommt, darf aber nicht auf eine symbolische Wirkung hoffen, sondern enthüllt nur sein geopolitisches Taumeln.
Auch bei der Frage, wie stark man dieUkraine militärisch unterstützen dürfe und müsse, fällt - abgesehen von den Pragmatismus-Weltmeistern USA und Großbritannien - die Asynchronität auf, mit welcher der sogenannte Westen agiert. Während Tschechien und die Slowakei längst Panzer an die Ukraine geliefert haben und Polen dem Nachbarstaat am liebsten sogar Kampfjets zur Verfügung stellen würde, sind berechtigte Zweifel erlaubt, ob die Bundesrepublik willens und in der Lage sein wird, Einsatzfähige schwere Waffen zu liefern. Schon bei Helmen haperte es. Die scharfe Kritik Selenskyjs an den jetzigen und früheren Verantwortungsträgern der Bundesrepublik war berechtigt und unüberhörbar.
Dass die Bundesrepublik trotz früher Warnungen Polens viel zu lange an dem berüchtigten Ostsee-Pipeline-Projekt ("Nord Stream") mit Russland festhielt, muss mittlerweile nicht mehr erläutert werden. Die damit verbundene Energie-Abhängigkeit gegenüber dem Kreml-Despoten ist längst zur Wohlstands-Sackgasse des Landes geworden und hat Deutschlands Reputation nachhaltig beschädigt. Für viele Polen ist Deutschland zum Sinnbild für fehlende politische Vernunft und Heuchelei geworden. Sprich: die Karikatur, der "Gartenzwerg" des Westens.
Auch Frankreich wird nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst
Doch auch die andere vermeintliche "leading nation" des europäischen Festlands, Frankreich, wird von den Osteuropäern längst nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst. Bei einer Rede im südpolnischen Krakau konnte es sich der polnische Premier Morawiecki jüngst nicht verkneifen, Kritik an der Telefon-Diplomatie des Selenskyj-Darstellers im Élysée-Palast zu üben: "Präsident Macron, wie oft haben Sie mit Putin verhandelt? Was haben Sie erreicht?", fragte Morawiecki, um bissig hinzuzufügen: "Würden Sie mit Hitler, mit Stalin, mit Pol Pot verhandeln?"

Die dünnhäutige Antwort Macrons kam prompt und wirkte wenig souverän. Morawiecki sei ein "rechtsextremer Antisemit" rechtfertigte sich der 44-jährige Wahlkämpfer, der am 24. April in der Stichwahl gegen Marie Le Pen antreten wird. "Jede Diskussion ist von Zynismus geprägt, es ist nie ein Vergnügen", jammerte Macron gegenüber der Zeitung "Le Parisien" weiter und bezeichnete den "Dialog" als seine "Pflicht". Auch wenn ein "Ausweg" erst im Mai erwartet werden könne, seien die Gespräche mit Wladimir Putin aber "nützlich, um den Frieden von morgen vorzubereiten".
Eine Einschätzung, die in Polen nicht nur von nationalkonservativen PiS-Politikern wie Morawiecki entschieden abgelehnt wird, sondern auch von des Nationalismus unverdächtigen Intellektuellen, wie dem Schriftsteller Szczepan Twardoch ("Demut"), der sich in einem aktuellen Gastbeitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" über die Russland-Unkenntnis des Westens echauffiert: "Wir in Osteuropa wissen sehr genau, dass Russland immer lügt, wenn es ihm gerade passt, es ist auf Lügen gebaut, die Lüge gehört zu seinem Wesen. ( ) Frieden tritt nicht ein, wenn ihr euch mit Russland einigt, sondern erst, wenn Russland zu keinen Angriffshandlungen mehr in der Lage sein wird", schreibt Twardoch, und weiter: "Die Nato steht im Krieg mit Russland. Diesen Krieg muss jemand verlieren. Wir hier, in Osteuropa, würden es vorziehen, wenn dieser Jemand das alte Russland ist."
Die fehlgeleitete Beurteilung Russlands
Doch Politiker wie Macron und Scholz, der dem Franzosen nach den harmlosen Attacken aus Krakau sofort beisprang, sind keinesfalls die einzigen Köpfe im Westen, deren Beurteilung Russlands - aus osteuropäischer Sicht - fehlgeleitet ist. Twardoch zählt neben anderen Intellektuellen Noam Chomsky und Naomi Klein auf, die das Putinsche Propaganda-Narrativ der "Sicherheitsbedenken Russlands" gedankenlos nachbeten. Twardoch hätte, wenn es um die Naivität von westlichen Einzelstimmen geht, auch den britischen Historiker Timothy Garton Ash nennen können, der im Gespräch mit dem österreichischen "Standard" (9./10. April) davon träumt, dass ein "demokratisches Russland" eine Art "special relationship" mit der Europäischen Union haben solle und dann auch "seinen Platz in der Nato" finde. Schade, dass der langjährige Abgeordnete im Europäischen Parlament, Otto von Habsburg, der zu Beginn der 2000er Jahre hellsichtig vor Putin warnte und damit nun posthum zum Youtube-Celebrity avanciert, derartig exzentrische Utopien nicht hier und jetzt exorzieren kann.
Denn: Ein in die Nato integriertes "demokratisches Russland" wäre sicherlich wünschenswert, doch wie soll der innere und äußere Weg zu einem solchen "Regimewechsel" aussehen? Seit dem Untergang der Sowjetunion, immerhin 30 Jahre, ist eine solche Transformation nicht gelungen, was wohl nicht nur an Putin liegt, sondern auch an anderen Kräften im und rund um den Kreml.
Dass der gesamte Westen für eine solche Transformation als Geburtshelfer ausscheidet, wurde unmittelbar nach der historischen Rede von US-Präsident Joe Biden in Warschau Ende März deutlich. Biden hatte zur Freude seiner Gastgeber in kompromissloser Wortwahl klar gemacht, was er von Putin ("Schlächter", "Kriegsverbrecher") hält: "Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben". Frankreichs Präsident Macron rügte den mächtigsten Mann des Westens daraufhin wegen seiner Wortwahl: "Ich würde diese Begriffe nicht benutzen, weil ich weiterhin mit Präsident Putin spreche, weil was wir zusammen wollen ist, den Krieg zu beenden, den Russland in der Ukraine begonnen hat - ohne Krieg zu führen und ohne eine Eskalation." Und: "Wir teilen dieselben Werte, die, die am nächsten zu Russland leben, sind die Europäer."
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.