Lässt sich das Unvereinbare vereinen? Das ist die Grundfrage jeder großen ethischen Kontroverse, bei der die Antwort nicht auf die Extreme setzt. Und das war auch die Grundfrage, der sich das Bundesverfassungsgericht in seiner 2. Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch vor nunmehr genau 30 Jahren gestellt und mit seiner Antwort den verfassungsrechtlichen Rahmen einerseits, sowie den Ausgangspunkt für weitreichende Kontroversen andererseits gesetzt hat. Kompromisse zwischen unversöhnlichen Positionen sind immer schwierig. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem am 28. Mai 1993 verkündeten Urteil einen Kompromiss versucht und dabei - das war kaum anders zu erwarten - Kritik sowohl von der einen als von der anderen Seite erhalten.
Wann beginnt menschliches Leben
Die beiden in diesem Konflikt widerstreitenden Positionen werden regelmäßig auf das antagonistische Schema von "Pro-Life" vs. "Pro-Choice" verkürzt. Hinter beiden Positionen stehen prinzipielle Grundüberzeugungen, die in verfassungsrechtlicher Terminologie gefasst das Lebensrecht des Ungeborenen (Pro-Life) einerseits oder die Selbstbestimmung der Frau (Pro-Choice) andererseits für fundamentaler ansehen. Beide Prinzipien lassen sich offensichtlich nicht leicht miteinander vereinen: Denn eine Entscheidung für das ungeborene Leben ("Verbot der Abtreibung") geht notwendig zulasten der Selbstbestimmung der Frau, während umgekehrt eine Entscheidung zugunsten der Selbstbestimmung der Frau ("Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs") vom Lebensrecht des Ungeborenen nicht viel übrigließe.
Auf der ethischen Ebene geht der Konflikt freilich tiefer (etwa: Ab wann beginnt menschliches Leben? Oder: Wann eigentlich beginnt die sexuelle/"reproduktive Selbstbestimmung" der Frau?). Doch das Verfassungsrecht bewegt sich im Prinzipiellen. Und ein Kompromiss zwischen Lebensrecht und Selbstbestimmung erscheint prinzipiell unmöglich, wenn und soweit bereits dem Ungeborenen sowohl die in Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) verbürgte Unantastbarkeit der Menschenwürde als auch das in Artikel 2 Abs. 2 GG ausgesprochene "Recht auf Leben" zugesprochen wird. Genau das hat das Bundesverfassungsgericht in unmissverständlicher Deutlichkeit bereits in seinem ersten Leitsatz ausgesprochen: "Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 I GG; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 II GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Rechtsordnung muss die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet."
Schutzpflicht des Staates
Der Staat ist demnach von Verfassungswegen verpflichtet, das Kind - und zwar schon das ungeborene - selbst gegenüber seiner Mutter zu schützen. Was bleibt dann aber noch von der Selbstbestimmung der Frau? Wie konnte auf der Basis dieser Grundannahme das Bundesverfassungsgericht das Unvereinbare miteinander vereinen? In einem Beratungsmodell und einer Paradoxie! Der Grundgedanke der Beratung läuft darauf hinaus, dass der Lebensschutz für den Nasciturus in Einschränkung des Strafrechts realisiert werden könne ("helfen statt strafen"). Und die vom Gericht verkündete Paradoxie erklärt die Abtreibung zugleich für rechtswidrig und doch erlaubt. Es leuchtet ein, dass dieser Kompromiss auf Unverständnis und Kritik gestoßen ist.
Doch das Beratungskonzept war keine Idee des Bundesverfassungsgerichts. Es war eine Entscheidung des Parlaments. Bereits mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten standen sich zwei unvereinbare Konzepte gegenüber: Das eher pro-choice orientierte Fristenlösungsmodell der DDR und das eher pro-life orientierte Indikationsmodell der Bundesrepublik. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch (Urteil v. 25. Februar 1975) die Fristenlösung (straffreie Abtreibung innerhalb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft) für verfassungswidrig erklärt. Die Festlegung des Einigungsvertrages, wonach in den "neuen Bundesländern" die DDR-Regelung weiter in Kraft bleiben sollte, war so bereits rechtsdogmatisch unhaltbar.
Die Neufassung der § § 218 ff. StGB durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) vom 27. Juli 1992 war ihrerseits von dem Willen getragen, die innerdeutsche Spaltung beim Schwangerschaftsabbruch mittels eines einheitlichen Regelungs-Modells zu beenden. Der Kern des Kompromisses bewahrte die ostdeutsche Fristenregelung und verband sie mit dem aus dem Kontext der "sozialen Indikation" bekannten Beratungskonzept. Der gemäß § 218 StGB grundsätzlich weiterhin strafbare Schwangerschaftsabbruch sollte demgemäß dann nicht rechtswidrig sein, wenn drei Bedingungen erfüllt wären: "1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung ... nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen (Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage), 2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und 3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind" ( § 218a Abs. 1 StGB).
Juristische Quisquilien
Darüber hinaus waren die medizinische (Gefahr für das Leben der Schwangeren und schwere körperliche Beeinträchtigung) und eugenische (nicht behebbare Schädigung des Gesundheitszustandes des Kindes) Indikation als die Strafbarkeit ausschließende Rechtfertigungsgründe benannt (§ 218a Abs. 2-3). Das Beratungskonzept ging schließlich so weit, die Strafbarkeit auszuschließen, "wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind" (§ 218a Abs. 4 StGB). Und diese Kombination von Beratung und Fristenlösung besteht im Grunde bis heute. Die eugenische wurde durch die kriminologische (Schwangerschaft aufgrund einer Straftat) Indikation als Rechtfertigungsgrund ersetzt. Die Frage der Strafbarkeit hängt aber praktisch an der Beratung in einer "Not- und Konfliktlage", wie es seit 1992 im § 219 StGB heißt.
Das Bundesverfassungsgericht hat dies trotz erhobenen Zeigefingers mit Betonung der Wichtigkeit des Lebensschutzes gebilligt. Die Beratung ist zwar jetzt kein Rechtfertigungsgrund mehr, weil der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig sein soll. Stattdessen entfällt der Tatbestand des § 218 StGB (§ 218a Abs. 1 StGB n.F.). Das sind juristische Quisquilien, die für die Praxis wenig hergeben. Ob die besondere Verpflichtung der staatlich zu verantwortenden Beratung auf den Lebensschutz und die Ermutigung zum Austragen der Schwangerschaft praktische Konsequenzen hat, lässt sich nicht leicht empirisch beurteilen. Die von dieser Entscheidung ausgehende heftige Kontroverse innerhalb der katholischen Kirche um die Beteiligung an der Schwangeren-Konflikt-Beratung war allerdings ein deutliches Indiz für die Zweifel, die in dieser Hinsicht bestehen.
Die Zeit ist seit 30 Jahren nicht stehen geblieben. Die Verlautbarungen des Europäischen Parlaments, den Schwangerschaftsabbruch als Aspekt der "reproduktiven Gesundheit" zu einem "Menschenrecht" zu erklären, sind ein deutliches Zeichen, die das Ende schwieriger Kompromisse in dieser Frage ankündigen. Das Gleiche gilt für die von der Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele. Eines davon, die Streichung des § 219a StGB (Verbot der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche) ist bereits umgesetzt. Dass endlich auch § 218 aus dem Strafgesetzbuch entfernt werden soll, liegt nahe: "Wir setzen eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ein, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches [...] prüfen wird."
Nicht ohne Strafrecht
Diese Kommission ist bereits eingesetzt und hat im März dieses Jahres ihre Arbeit aufgenommen. Sie besteht fast ausschließlich aus Frauen und man muss kein Hellseher sein, um bei der Zusammensetzung bereits jetzt zu wissen, wie das Gutachten aussehen wird. Es wird ein deutliches "Pro-Choice"-Votum herauskommen, bei dem die Abschaffung des § 218 StGB empfohlen werden wird. Das Ende des Versuchs, das Unvereinbare vereinen zu wollen.
Gleichwohl: Jeder Versuch einer Verschiebung oder neuen Vermittlung zwischen den beiden Extrempositionen muss seinen Ausgangspunkt in der vor 30 Jahren ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts finden. Jede hiervon abweichende neue gesetzliche Regelung, die den auf prinzipieller Ebene zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung aufgeworfenen Konflikt neu und Lasten des Lebensschutzes des Ungeborenen zu justieren sucht, wird mit einiger Sicherheit zu einer neuerlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Lösung des Konflikts nun kompromisslos außerhalb des Strafrechts gesucht wird.
Denn immerhin hat das BVerfG seinerzeit noch klargestellt, dass "das Untermaßverbot" (bezogen auf den Lebensschutz des Nasciturus) es nicht zulasse, "auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten." Ob das Bundesverfassungsgericht diese Frage auch heute noch so beurteilen würde, ist freilich zweifelhaft. Die Besetzung des Gerichts ist heute eine gänzlich andere als vor 30 Jahren.
Der Autor ist Ordinarius für Deutsches und Europäisches Privatrecht, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock.
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