Er wolle ja einen Deal, sagte Großbritanniens Premierminister Boris Johnson am Montag bei einem Kurzbesuch in Irland. „Ein No-Deal-Brexit wäre ein Versagen der Staatskunst, für das wir alle verantwortlich wären.“ Tatsächlich ist das Ende der britischen Staatskunst seit Monaten in Echtzeit zu beobachten, doch verantwortlich sind nicht „wir alle“, sondern vor allen anderen Boris Johnson. Mit Lügen, Desinformationen und Versprechen hat er 2016 Großbritannien Richtung Brexit gesteuert. Als Premierminister vollendet er jetzt das unheilvolle Werk der Spaltung und Vernichtung. Nie zuvor war Großbritannien regional, gesellschaftlich und ideologisch so zerrissen. Nie zuvor war das Ansehen der politischen Klasse insgesamt und der altehrwürdigen Konservativen im Besonderen so am Boden.
Das Unterhaus legte dem Premier enge Fesseln an
In den vergangenen Tagen tat der Premierminister alles, um die Glaubwürdigkeit des politischen Systems zu ruinieren: Im Mutterland des Parlamentarismus legte er per Gesetz das Unterhaus und damit die parlamentarische Kontrolle für Wochen lahm. Johnson beruft sich stets auf das Volk, wenn er gegen das vom Volk gewählte Parlament agiert. Im Gegenzug legte das Unterhaus dem Premierminister enge Fesseln an. Per Gesetz ist er nun zu einem Deal oder einer Verschiebung des Brexit verpflichtet. Johnson hat im Ringen mit dem Parlament nichts von dem erreicht, was er wollte: kein grünes Licht für einen No-Deal-Brexit, keine Zustimmung zu Neuwahlen, keine parlamentarische Mehrheit für seinen Crashkurs.
Aber er hat viel von dem verspielt, was er von seiner glücklosen Vorgängerin Theresa May gerade noch geerbt hat: eine knappe parlamentarische Mehrheit aufseiten der Regierung, eine mühsam gesicherte Geschlossenheit der krisengebeutelten Tories, einen kleinen Rest an Glaubwürdigkeit jenseits des Ärmelkanals – bei den bisherigen Partnern und künftigen Nachbarn in Europa. Alles ist weg. Die Vorstellung, dass die EU ausgerechnet jetzt dem britischen Premier zu Füßen fällt, um in allerletzter Minute statt keines Deals irgendeinen beliebigen Deal mit dem scheidenden Großbritannien zu erhalten, ist abenteuerlich. So abenteuerlich wie das gesamte Handeln von Johnson.
Folgen eines No-Deal-Brexit wären katastrophal
Der Hasardeur, dem die Führung des Königreichs in die Hände fiel, will sein Land auf Biegen und Brechen am 31. Oktober aus der verhassten, verleumdeten EU führen. Gleichzeitig weiß er, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen eines No-Deal-Brexit katastrophal wären: für beide Seiten, aber deutlich dramatischer für Großbritannien. Die Rechtsunsicherheit für tausende britische Dienstleister in der EU, für die 3,6 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die etwa eine Million Briten in der EU wirft schon ihre Schatten voraus. Zehntausende Briten haben sich bereits irische, zypriotische oder deutsche Pässe besorgt. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit einem Einbruch der britischen Wirtschaft um acht Prozent, die Bank of England mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,5 Prozent und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf sieben Prozent. 245 000 britische Firmen, die heute zollfrei in der EU handeln, würden mit Verteuerungen und Verzögerungen ihrer Exporte bestraft. Im Vereinigten Königreich rechnet man mit Versorgungsengpässen, denn 30 Prozent der in Großbritannien verzehrten Lebensmittel kommen aus der EU; ebenso 60 Prozent der Teile, die in britischen Autos verbaut werden.
Ein Boris Johnson dreht nicht bei
Ein Boris Johnson dreht nicht bei. Um den gesetzlichen Fesseln des Unterhauses Genüge zu tun, muss er Ende Oktober in Brüssel formal um eine Verschiebung des Brexit ansuchen. Doch wenn er zugleich einen der 27 EU-Staaten dafür gewinnt, ein Veto dagegen einzulegen, dann ist das Königreich am 1. November nicht mehr Mitglied der EU. Die von ihrem eigenen Premier entsetzten Briten können jetzt nur noch hoffen, dass die bisherige Einheit der 27 EU-Staaten in der Brexit-Frage weiter hält – und sie vor dem No-Deal-Szenario rettet.