Xi Jinping hat seine autokratische Macht gefestigt und muss als „überragender Führer“ in China keinen Widerspruch dulden. Nach einem Jahrzehnt an der Spitze hat er Partei und Staat fest im Griff. Das zeigte sich bereits zu Beginn des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas, zu dem fast 3.000 der 96 Millionen Parteimitglieder einbestellt wurden. In seiner 105-minütigen Grundsatzrede musste der unumstrittene Alleinherrscher weder seine heiklen Entscheidungen noch die Problemlagen des Landes argumentieren: die restriktive „Null Covid“-Strategie und ihre psychischen Folgen, die wachsende Jugendarbeitslosigkeit, die Immobilienkrise, die auch nach dem Ende der fatalen Ein-Kind-Politik dramatische demographische Lage, die holprige ökonomische Entwicklung oder sein Verhältnis zum Kriegsherren Putin.
Die USA als globale Führungsmacht ablösen
Xi Jinping ist in jene Sphäre entrückt, in der sich Autokraten unfehlbar wähnen, weil sie unkritisierbar geworden sind. Seit er vor einem Jahrzehnt zunächst die Partei- und dann die Staatsführung übernahm, hat der heute 69-Jährige Hunderttausende verhaften und wegsperren lassen, ein totalitäres Überwachungssystem aufgebaut und jede Form von widerspenstiger Meinungsäußerung brutal niedergeschlagen. Das gnadenlose Vorgehen gegen ethnisch-religiöse Minderheiten wie die Uiguren und gegen Freiheitsbestrebungen wie in Hongkong ist kein politischer Unfall, sondern systembedingt. Das bekommen auch die Christen in China zu spüren, die seit dem Amtsantritt von Xi Jinping einem als „Sinisierung“ getarnten, immer stärkeren Gleichschaltungsdruck ausgesetzt sind.
Das kommunistische China lehnt die vom Westen eingemahnten Menschenrechte nicht etwa im Einzelfall, sondern grundsätzlich ab. Es bestreitet die Universalität der Menschenrechte als eine westliche Idee und somit als Form von weltanschaulichem Kolonialismus. Diese Haltung prägt auch Pekings Außenpolitik: China soll nicht geliebt oder geachtet, sondern gefürchtet werden. Xi Jinpings Ziel ist nicht Multilateralismus oder Kooperation, sondern Abhängigkeit und Kontrolle. Die USA als bisher führende Weltmacht gelten als zentraler Systemkonkurrent Chinas: Während die USA ihre Außenpolitik letztlich in den Dienst ihrer wirtschaftlichen Interessen stellen, verfährt Peking umgekehrt und stellt seine weltwirtschaftliche Rolle in den Dienst seiner Weltmacht-Ambitionen. Xi Jinping glaubt an die Überlegenheit des chinesischen Ansatzes und hat das Ziel, die USA als globale Führungsmacht abzulösen.
Fundamentale Frontstellung gegen den Westen
Nur mit dieser fundamentalen Frontstellung gegen den Westen, sein Menschenbild und sein Politikverständnis ist zu erklären, warum Xi Jinping den russischen Autokraten in der Ukraine weiter morden lässt, statt ihm Grenzen aufzuzeigen. Die Macht dazu hätte der chinesische Alleinherrscher, denn in der russisch-chinesischen Freundschaft ist Russland heute der abhängige Juniorpartner. Putins Krieg in der Ukraine muss Xi Jinping völlig anachronistisch scheinen: ein Kolonialkrieg mit den Ideen, Mitteln und Methoden des 20. Jahrhunderts. China setzt dagegen auf einen ökonomischen Kolonialismus des 21. Jahrhunderts, in dem es um Rohstoffe, Dienstleistungen und Handelsströme geht, in dem Urheberrechtsverletzungen, Technologietransfer und Datenkontrolle als Waffen eingesetzt werden. Putins Krieg stört Pekings modernere Strategie; doch noch dominiert Chinas Sorge, der Westen könnte diesen Krieg gewinnen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.