Exklusivinterview

Carsten Linnemann zählt zu den Hoffnungsträgern der CDU

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann zählt zu den Hoffnungsträgern der Union in der Post-Merkel-Ära – und plädiert im „Tagespost“-Interview für einen Politikwechsel.
Carsten Linnemann
Foto: Tobias Koch | Carsten Linnemann (geboren 1977) ist CDU-Politiker und seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Linnemann gewann jeweils das Direktmandat im Wahlkreis Paderborn und leitet die CDU-Grundsatzkommission.

Herr Linnemann, wenn man Ihr Buch liest, kann man den Eindruck bekommen, Sie seien eigentlich ganz froh, dass Ihre Partei nun in der Opposition ist. Zwingt diese neue Lage die Union doch dazu, sich aus Ihrer Komfortzone herauszubewegen und programmatisch in die Offensive zu gehen. Ist das so?

Wenn ich davon spreche, dass wir jetzt aus der Komfortzone raus müssen, dann meine ich nicht nur meine Partei, sondern das ganze Land. Unser Wohlstand ist in Gefahr. Das Geschäftsmodell Deutschland steht zur Disposition. Mein Eindruck ist, dass diese Dramatik überhaupt nicht wahrgenommen wird. Erst recht nicht in der Ampel. Deswegen hadere ich auch damit, dass wir nun in der Opposition sind. Aber es stimmt: Die Oppositionsrolle zwingt uns dazu, klarer zu formulieren, was den Kern unserer Politik ausmacht.

Bei dieser Aufgabe kommt ihnen als Vorsitzender der Kommission, die sich um ein neues Grundsatzprogramm für die CDU kümmert, eine Schlüsselrolle zu. Doch Grundsatzdiskussionen sind in der Regel langatmig und es besteht auch die Gefahr, ins Theoretische abzugleiten. Bleibt dafür angesichts der von Ihnen skizzierten Krisensituation überhaupt Zeit?

Das Problem der vergangenen Jahre war, dass wir uns von Krise zu Krise bewegt haben. Und die jeweilige Krise war die Ausrede dafür, dass man alle anderen Probleme, die ebenso dringend gelöst werden müssen, ausblendet. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist im Moment das beherrschende aktuelle Thema. Aber schauen wir in die Zukunft: Ich glaube nicht, dass die Menschen im Jahr 2035, wenn sie in der Rückschau überlegen, was im Jahrzehnt zuvor politisch richtig und falsch gemacht worden ist, nur an den Krieg denken werden. Die demographische Situation, der Fachkräftemangel, die Frage der Energie, die dramatischen Auswirkungen der Inflation – alle diese Punkte müssen jetzt auch angegangen werden. Dazu muss sich die Politik aus dem Krisenmodus befreien und wieder grundsätzlicher darüber sprechen, was unser Geschäftsmodell Deutschland ausmacht. Beispielgebend ist hier übrigens – Stichwort Oppositionszeit – die CDU in den 70er-Jahren: Damals gab es unter dem Generalsekretär Kurt Biedenkopf solche Grundsatzdebatten, die aber nicht bloß abstrakt waren. Es ging um konkrete Probleme und konkretes politisches Handeln. Das schlug sich damals auch in der Sprache des Grundsatzprogramms nieder: klare Hauptsätze, die jeder verstehen kann. Nicht solche Formulierungen, wie man sie im Koalitionsvertrag der Ampel findet. Als ich den gelesen habe, habe ich mir eine Nadel gewünscht, um in diesen großen Schwurbelballon hineinzustechen und die ganze heiße Luft herauszulassen. Die Ampel agiert nur im Krisenmodus und geht nicht die nötigen Strukturreformen an. Allerdings gehört zur Wahrheit auch: Die Union hätte es vermutlich nicht viel besser gemacht. Auch wir haben viel zu lange Klartext vermieden.

"Ich glaube nicht, dass die Menschen im Jahr 2035,
wenn sie in der Rückschau überlegen, was im Jahrzehnt
zuvor politisch richtig und falsch gemacht
worden ist, nur an den Krieg denken werden"

„Die ticken doch nicht richtig“ – das ist der Titel Ihres Buches. In diesem Satz fassen Sie die Stimmungslage der Bevölkerung gegenüber der Politik zusammen. Diese Aussage steht für einen Entfremdungsprozess, der das Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern verändert hat. Sie führen in Ihrem Buch auch die mittlerweile schon legendäre „Ruck-Rede“ von Roman Herzog an. Damals, 1997, beklagte der Bundespräsident bereits den Reformstau in Deutschland. Das ist nun 25 Jahre her. Ist es da nicht verständlich, dass die Menschen enttäuscht sind? Schon vor einem Vierteljahrhundert war klar, was getan werden müsste. Aber nichts ist passiert. Wie kann das sein?

Vielleicht gibt es nicht die richtigen Politiker. Oder auch: Es gibt sie kaum noch.

Wer sind beziehungsweise waren denn aus Ihrer Sicht noch „richtige“ Politiker?

Helmut Schmidt und Ludwig Erhard zum Beispiel. Beide Staatsmänner waren in der Lage, ihre Politik im Gespräch mit dem Bürger so herunterzubrechen, dass sie verstanden worden sind. Sie konnten sich auch mit den Leuten an der Theke in der Kneipe unterhalten. In meinem Buch zitiere ich aus einem Interview, das Erhard 1977 kurz vor seinem Tod gegeben hat. Damals sagte er: „Ich würde mir wünschen, dass wir wieder in unserem Lande sachlich miteinander sprechen lernen, dass wir lernen, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen, und dass anstelle von nur taktischen Überlegungen wieder die Wahrheit ihr Recht findet.“ Wahrscheinlich würde sich Erhard mit Blick auf unsere heutige Streitkultur im Grabe umdrehen.

Sie selbst mussten hier negative Erfahrungen machen: Als Sie sich dafür ausgesprochen haben, dass jedes Kind die deutsche Sprache beherrschen sollte, bevor es in die Grundschule kommt, wurden Sie als Rassist beschimpft. Was muss sich ändern?

Lesen Sie auch:

Mein Eindruck ist: Wenn ich als Politiker Profil zeige, werde ich weniger mit Gegenargumenten als mit dem erhobenen Zeigefinger konfrontiert. Es ist also kein Wunder, dass sich immer mehr Politiker aus allen Parteien diesem Druck entziehen wollen und unterordnen. Wir zensieren uns selbst. Wir ziehen bewusst oder unbewusst jedes Wort durch den „Politisch korrekt“-Scanner. Ich appelliere daher an alle Demokraten: Lassen Sie uns die Stärken der Demokratie nutzen. Die Vielfalt an Ideen und Vorschlägen, den Wettbewerb der Argumente und die Möglichkeit, Fehler zu erkennen und sie zu korrigieren. Sich auf andere Positionen einzulassen, strengt an. Aber unterschiedliche Positionen sind kein Unglück, sondern ein Glücksfall. Wir müssen uns mehr in der Debatte üben. Sachlich und mit gegenseitigem Respekt.

Dass für Sie Bodenständigkeit wichtig ist, wird deutlich, wenn man Ihre Homepage liest: Dort beschreiben Sie, dass Sie gerne Skat in Ihrer Stammkneipe spielen. Eine andere Frage: Aktuell wird kontrovers über eine Wahlrechtsreform diskutiert. Sie sind direkt gewählter Abgeordneter für Paderborn. Der Vorschlag der Ampel sieht vor, dass unter Umständen direkt gewählte Kandidaten gar nicht in den Bundestag einziehen. Wäre es nicht wichtig, die Stellung der direkt gewählten Abgeordneten zu stärken? Sie sind es doch, die die Bindung zu den Bürgern vor Ort haben. Müsste man nicht eigentlich über die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes diskutieren?

Ja, grundsätzlich bin ich da bei Ihnen. Allerdings kann auch schnell der Eindruck entstehen, ich als direkt gewählter Abgeordneter hätte ja gut reden. Insgesamt ist wichtig bei dieser Debatte: Es muss deutlich werden, dass es bei der Wahlrechtsreform nicht darum geht, dass Parteien ihre jeweiligen Interessen durchsetzen wollen.

"Es muss deutlich werden, dass es bei der Wahlrechtsreform
nicht darum geht, dass Parteien ihre jeweiligen Interessen durchsetzen wollen"

„Einfach mal machen“ – auf diese Formel bringen Sie Ihre Lösung für die anstehenden Aufgaben der Politik. Was kann das konkret heißen?

In Koalitionsverträgen muss in Zukunft eine klare Zuständigkeit zugeteilt werden. Welches strukturelle Problem muss jeder Minister in seinem Ressort in welcher Zeit und mit wie viel Budget lösen? Ein Punkt würde schon reichen. Das wäre ein Ansatz, wie er auch in der Wirtschaft üblich ist. Der Bürger hätte dann die Möglichkeit, am Ende der Legislaturperiode zu prüfen, ob der Minister seine Aufgabe gelöst hat oder nicht. Ich bin mir sicher: Dann würde es nur Minister geben, die auch wirklich etwas von ihrem Sachgebiet verstehen. Und die Koalitionsverträge würden nur noch wenige Seiten umfassen. Umso kürzer, desto besser.

Gab es schon einmal einen Punkt, an dem Sie mit der Politik so haderten, dass sie überlegt haben, aufzuhören?

Nein, den gab es noch nicht. Es steht für mich zwar aktuell überhaupt nicht an, aber natürlich kann ich mir vorstellen, irgendwann auch noch einmal etwas anderes zu machen.

Carsten Linnemann
Foto: Michael Kappeler (dpa) | ARCHIV - 14.12.2015, Baden-Württemberg, Karlsruhe: Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU/CSU, spricht beim Bundesparteitag.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Sebastian Sasse Angriffskriege CDU Deutscher Bundestag Helmut Schmidt Kurt Biedenkopf Ludwig Erhard Roman Herzog

Weitere Artikel

Bewusst haben die Mittelmäßigen in Kirche und Welt ihn missverstanden. Alles ist nicht nur eingetroffen, sondern entwickelte sich viel schlimmer.
08.01.2023, 05 Uhr
Peter Hahne
Start einer Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Den Auftakt macht der verteidigungspolitische Sprecher der FDP- Bundestagsfraktion.
04.03.2023, 09 Uhr
Alexander Müller

Kirche

Was auf „synodalen Wegen“ derzeit geschieht, ist mehr als die Wiederholung altbekannter Forderungen.
21.03.2023, 19 Uhr
Martin Grichting