Niemand hat jemals einem Journalisten ein Denkmal gebaut.“ Mit diesem Satz wechselte Boris Johnson einst vom „Spectator“ in die Politik. Der Erdrutschsieg der Konservativen bei den Unterhauswahlen war vielleicht kein Denkmal, aber zumindest ein Denkzettel, den der Premier seinen Ex-Kollegen aus der Presse und dem Labour-Herausforderer Jeremy Corbyn verpasst hat. Johnson bat in der Wahl darum, dass die Wähler ihm neun weitere Mandate ermöglichen sollten, um die Hängepartie im Parlament – und damit um den Brexit – endlich zu beenden. Die Briten gaben ihm am Donnerstag satte 48 Sitze. Die britische wie auch die deutsche Presse hatten vorher ein knappes Abschneiden prognostiziert. Corbyn durfte den Sündenbock spielen. Labour-Politiker und Medien schoben ihm die Verantwortung zu. Und tatsächlich: 37 Prozent der Briten, die bei der letzten Unterhauswahl 2017 ihr Kreuz bei Labour setzten, es aber zwei Jahre später nicht taten, machten die Führung der linken Partei dafür verantwortlich. Offenkundige Symptome waren der grassierende Antisemitismus in der einst stolzen Arbeiterpartei, welcher Corbyn nicht Herr werden konnte – oder wollte. Sein lockerer Umgang mit IRA-Mitgliedern galt den Tories als gefundenes Fressen in der Wahlschlacht.
Tiefer Graben zwischen progressiven Parteikadern und Unterschichtlern
Das Wahlprogramm, das alte sozialistische Rezepte mit neulinker Identitätspolitik, Gender- und Migrationsrhetorik verband, tat sein Übriges. Die klassische Stammklientel in den alten Industrieregionen der Midlands und in Nordengland, die bereits beim Referendum über den Verbleib in der EU mit „Leave“ abstimmte, entfremdete sich von Labour in erschreckendem Maße. Auch deswegen hatte die Partei keine feste Meinung beim Brexit, da sie fürchtete, von der „working class“ abgestraft zu werden.
Unterschwellig hatte sich längst ein tiefer Graben zwischen den progressiv-bourgeoisen Parteikadern und den vermeintlich xenophoben Unterschichtlern gebildet; eine Ausgangslage, die jener bei der letzten US-Wahl ähnelte. Das Ergebnis zeigt sich exemplarisch am Wahlkreis Bishop Auckland, wo zum ersten Mal nach 134 Jahren ein Tory-Kandidat gewann. Mit ihrer Laissez-faire-Abtreibungspolitik vergraulten Corbyns Leute auch das traditionell Labour verbundene katholische Milieu.
Doch greift diese Deutung zu kurz. Auch die Alternative zu Johnson und Corbyn, nämlich Jo Swinson von den Liberaldemokraten, hat enttäuschend abgeschnitten. Die „LibDems“ galten als Pro-EU-Partei par excellence. Offensichtlich ist Johnson nicht die Gestalt, die Großbritannien spaltet, sondern nach dem schicksalsträchtigen Votum eint. Die Briten wollen zum Alltag zurückkehren. „Get Brexit done“, der Schlachtruf Johnsons, hallte da wie ein Ende mit Schrecken. Nach der ersten Hochrechnung schnellte der Sterlingkurs um zwei Prozent in die Höhe.
Etikett eines politischen Hasardeurs
Es ist Wasser auf den Mühlen Johnsons: hatte er doch immer wieder eine strahlende wirtschaftliche Zukunft postuliert, sollte der Brexit gelingen, im Gegensatz zu jenen Gegnern, die apokalyptische Zustände prognostizierten. Seit dem Referendum im Jahr 2016 haftet dem 55-Jährigen das Etikett eines politischen Hasardeurs an, weil er den Brexit mit erfundenen Vorteilen angeheizt hatte. Der Tag des Votums war ein Tag des Zorns gegen Johnson, dem Medienvertreter vorwarfen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Dass die Briten Johnson beides verziehen haben, ist wenig verwunderlich. Nicht nur deswegen, weil Lügen unter Politikern nicht die seltenste Erscheinung sind, und das Vereinigte Königreich zugleich das Land, welches der Labour-Premier Tony Blair einst mit zweifelhaften Beweisen in den Irak-Krieg führte; sondern auch, weil Johnson einen Monat später das Amt des Außenministers übernahm.
Die falsche Einschätzung der Medien geht auf die Karikatur zurück, welche die Medien aus dem Eton-Abgänger gemacht haben – weil sie selbst an diese zu glauben begonnen haben. Johnson wurde als Sohn britischer Eltern in New York geboren. Aufgewachsen auf beiden Seiten des Atlantiks und ausgestattet mit einer wahrhaft „diversen“ Ahnenreihe – zu der neben süddeutschen Adligen und litauischen Juden auch der osmanische Innenminister Ali Kemal zählt – ist Johnson mit Sicherheit alles andere als der Vorzeigekandidat einer rassisch-weißen Suprematie.
Nicht in Europa, sondern in der Welt zuhause
Johnsons Biografie entspricht der altbritischen Überzeugung, nicht in Europa, sondern in der Welt zuhause zu sein. Die Andersartigkeit der Welt schreckt nicht ab, sondern führt zur Erkenntnis der eigenen Identität. Unter diesem Aspekt muss seine jugendliche Konversion zum Anglikanismus verstanden werden. Ursprünglich war Johnson katholisch getauft worden.
Dass Johnson von Hause Altphilologe ist, wird von der Überbetonung seiner exzentrischen Persönlichkeit verdeckt. Seine Bücher – ob über das Römische Imperium oder Winston Churchill – werden in der politischen Analyse ausgeblendet. Dabei ergeben sie das Bild eines Mannes, der von Thukydides statt vom Klimawandel fasziniert ist, und eher mit Perikles denn mit supranationalen Institutionen liebäugelt. Mit althistorischem Blick hat Johnson längst erkannt, dass wir in der Endphase unserer politischen Systeme leben. Statt darüber zu trauern, spielt er den Cäsar.
Faszination für die antike Welt
Seiner Faszination für die antike Welt dürfte der Umstand geschuldet sein, dass Äußerungen zum Beitrag des Christentums kaum existieren. Einem Kosmopoliten, der pragmatisch die Mittel seiner Herrschaft von heute auf morgen austauscht, um sich der Popularität des Volkes sicher zu sein, ist das Korsett eines christlichen Abendlandes nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell zu eng. Es war Johnson, der die Olympischen Spiele als Bürgermeister nach London geholt hat. Wie bei Trump ist die Weltstadt seine Heimat, während er im Wahlkampf Bergleute und Stahlarbeiter anspricht. Letztere wird Johnson über öffentliche Ausgaben bei der Stange halten. Das erscheint im Heimatland des Manchester-Kapitalismus überraschend. Anders als Thatcher spielt nicht die Wirtschaft die erste Rolle; sie tut es aber in dem Sinne, dass er der ehemaligen Stammwählerschaft von Labour bessere Zeiten verspricht, wenn der Brexit erst einmal vollzogen ist. Das mag man Populismus, Demagogie oder Machiavellismus nennen. Die gewonnene Wahl hat gezeigt, dass Johnsons Cäsarismus funktioniert. Fehlt also nur noch das Denkmal.
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