Politik

Biographisches: Leonardos Geheimnis

Leonardo da Vinci starb am 2. Mai 1519, drei Wochen, nachdem er seinen 67. Geburtstag gefeiert und sein Testament aufgesetzt hatte, im Schloss Clos Lucé in Amboise. Zwischen seinem Geburtsort Vinci in der Toskana in der Nähe von Florenz und dem Ort, an dem er sein Leben beschloss, liegen gute 1 200 Kilometer. Die Legende vom großen Renaissancemagier hatte jedoch bereits seinen Siegeszug in die Welt und die Geschichte angetreten. Mochte Leonardos sterbliche Hülle zerfallen – sein Geist und sein Geheimnis, das ihn nach wie vor umweht, haben die Welt bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen. Von Klaus-Rüdiger Mai
Leonardo da vinci portrait postcard
Foto: Marcelo Teixeira de Oliveira (224279356)

Frankreichs König, der Leonardo dieses Refugium der letzten Jahre aus wahrer Bewunderung für den göttlichen Künstler zur Verfügung stellte, weilte an diesem 2. Mai zwar weit von dem sterbenden Universalgenie entfernt in Saint-Germain-en-Laye, doch hinderte das nicht Leonardos frühen Biographen Giorgio Vasari daran, zu behaupten, dass der alte Meister in den Armen des französischen Königs seinen letzten Seufzer tat. Diese Leonardo-Legende, um nur eine von vielen zu erwähnen, gewann im Laufe der Zeit derart an Bedeutung, dass sie schließlich im 19. Jahrhundert als unumstößliche Tatsache galt, bis sie schließlich doch widerlegt wurde.

Wenn man auf Leonardos Leben schaut, stößt man auf eine reiche Sammlung von Paradoxa, die zu den Gründen der reichen Legendenbildung um den toskanischen Künstler gehört. Der erste und grundsätzliche Widerspruch, wenn nicht gar Widersinn, findet sich darin, dass wir von Leonardo mehr wissen, als von den meisten Künstlern seiner Zeit, vergleichbar hierin nur mit Michelangelo und Raffael, und dennoch stellt sich die Fülle des Wissens im Gegensatz zu den beiden anderen Maestri sofort und immer wieder selbst in Frage, beginnt sich bei näherem Hinschauen selbst zu verrätseln. Sicher liebte er es, sich zu mystifizieren. Man weiß nicht, wann diese Idée fixe von ihm Besitz ergriffen hatte, aber Leonardo mühte sich, bei all seinem Tun stets die Nachwelt fest im Blick zu haben. Eine unstillbare Sehnsucht durchdrang ihn, in die Geschichte einzugehen. Nur das Gedächtnis der Nachwelt vermochte ihn zu retten: vor der Zeit, die er mit Ovid die „Verzehrerin der Dinge“, die „schnelle(n) Rafferin der geschaffenen Dinge“, die „viele Könige“, „viele Völker“ „schon vernichtet“ hat, nannte. Staaten haben, notierte Leonardo, sich gewandelt und „allerlei Zustände sind erfolgt“. Gegen die Zeit, gegen den Tod, gegen das Vergessen-werden bemühte er sich zu gewinnen. Ewigkeit suchte er im Gedächtnis der Nachwelt, und nur wer ein Geheimnis besitzt, das sich, wenn es erkundet werden soll, nur vergrößert, wird kommende Geschlechter immer wieder beschäftigen, und wer es noch bis in die trivialsten Ebenen der Verschwörungstheorien schafft, wofür Dan Browns „Da Vinci Code“ einen unwiderlegbaren Beweis lieferte, der ist wahrhaft unsterblich geworden. Doch wer ist dieser Leonardo da Vinci wirklich, der um die 15 Gemälde und über 4 000 Zeichnungen hinterlassen hatte? Schwer zu sagen. Jedes Buch über ihn, begonnen bei seinen ersten Biographen, hatte das Rätsel Leonardo nur vergrößert. Schon die Anzahl der Gemälde ist umstritten. Zählt das teuerste Gemälde der Welt, der Salvator mundi, wirklich zu seinen Werken? Ist seine Fassung der Leda verlorengegangen? Wie steht es mit den beiden Fassungen der Felsengrottenmadonna, wie mit dem Johannes und dem Bacchus?

Leonardos Taufe als Gesellschaftsereignis

Fest steht, das die Welt Leonardos Existenz einer kurzen, unbedachten Sommerliebelei des jungen, an sich mehr als disziplinierten und ordentlichen Notars Ser Piero di Antonio da Vinci, der sich im nahen Florenz niederließ, verdankt. Doch der nicht allzu glückliche Vater verließ bereits kurz nach Leonardos Geburt am 15. April 1452 gegen 22.30 Uhr das Haus der Familie im Zentrum Vincis, um die Ehe mit der Florentinerin Albiera, des reichen Schuhmachers Giovanni Amadoris sechzehnjähriger Tochter, einzugehen. Zwar waren weder die Mutter, die noch im Kindbett lag, noch der Vater zur Taufe des „natürlichen Sohns“ zugegen, doch Leonardos Taufe am Weißen Sonntag in der überfüllten Pfarrkirche Santa Croce geriet dennoch zum gesellschaftlichen Ereignis. Nicht weniger als zehn angesehene Bürger standen für den unehelichen Enkel des Advokaten Antonio da Vinci Pate. Bei seinem Sohn, Piero, Leonardos Vater, belief sich die Zahl der Paten nur auf Vier. Antonio da Vinci wollte sichergehen, dass sein erster Enkel, zwar unehelich geboren, vor aller Welt dennoch als zur Familie gehörend anerkannt wurde. Die leibliche Mutter wurde mit einem einfachen Mann aus der Umgebung, den man zeitlebens immer wieder unterstützte, versorgt, während Leonardo voller Liebe und mit viel Freiheiten im Hause des Großvaters aufwuchs. Hier erwachte auch die Leidenschaft für die Beobachtung der Natur in ihm. Später, als er längst in Florenz oder in Mailand wohnte, riss die Verbindung zu Vinci nicht ab, kehrte er immer wieder zurück. Nicht umsonst entstand die erste von Leonardo überlieferte Zeichnung, die eine Arnolandschaft zeigt, während eines Aufenthaltes in Vinci 1473. Doch mit dem Tod des Großvaters 1464 endete die freie, die ungezügelte Kindheit in Vinci und der strenge Vater nahm den Filius, den er wohl niemals liebte, weil er ihm immer als Zeugnis seines Kontrollverlustes vor Augen stand, zu sich nach Florenz.

Weder eine Lateinschule, noch eine Universität durfte Leonardo besuchen, sondern er wurde nach der Rechenschule in die Lehre des immerhin berühmten Malers Andrea del Verrochio gegeben, der ein Mandant seines Vaters war. Dass er niemals Latein gelernt und keine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, sollte sich für Leonardo schließlich als Fluch und Segen zugleich erweisen, denn dadurch sah er sich gezwungen, eigene, zwar unakademische, dafür aber neue Wege zu gehen, um seinen enormen Wissens- und Forschungsdrang zu befriedigen. Malen wurde ihm zum Weg der Erkenntnis, indem er sich die Welt ermalte und er die Malerei zu seiner Methode der praktischen Erkenntnis der Welt entwickelte.

Kaum Meister geworden, erfreute er sich zweier prestigeträchtiger Aufträge, zum einen für das reiche Kloster San Donato in Scopeto eine „Anbetung der heiligen drei Könige“ und zum anderen für die Stadtregierung einen „Heiligen Hieronymus“. Leonardo, der von Anfang nichts aus der Hand gab, was er nicht für perfekt und für fertig hielt, denn nur das würde von ihm der Nachwelt erhalten bleiben, scheiterte in beiden Aufträgen, die er nicht vollendete, weil ihm noch das Wissen dazu fehlte, die Gemälde so fertigzustellen, wie er es sich vorgenommen hatte. Sein Ansehen, kaum dass es hätte in Florenz erstrahlen können, war zerstört. So floh er nach Mailand und wurde auch mithilfe der Vermittlung von Freunden Hofkünstler des Herrschers Lodovico Sforza, genannt il Moro.

Leonardo da Vinci, das Multi-Talent

Leonardo da Vinci lebte von 1482 bis 1499 in der lombardischen Metropole – und es sollte eine ausgesprochen erfolgreiche und produktive Zeit für ihn werden, eine Zeit, in der der Mythos Leonardo entstand. Kaum ein Gebiet, auf dem er nicht reüssierte, ob als Unterhalter am Hof, als Ausstatter und Regisseur für Theateraufführungen und große Festumzüge, als Mechaniker, Baumeister, Stadtplaner und Architekt, als Naturforscher und natürlich als Maler und Bildhauer. Für den Herzog von Mailand sollte er das größte Reiterstandbild dieser Zeit erschaffen. Das Pferd selbst sollte eine Höhe von 7,20 Metern haben. Das Tonmodell in realer Größe schuf er noch, doch wurde es von den französischen Bogenschützen, nachdem der König von Frankreich Mailand eingenommen und il Moro verjagt hatte, zerstört. Zur Ausführung des Bronzegusses sollte es aufgrund der kriegerischen Ereignisse nicht mehr kommen. In Mailand hatte er unter anderem die großartige Felsengrottenmadonna, das faszinierende Porträt der Cäcilia Gallerani und vor allem das berühmte „Abendmahl“ geschaffen.

Hinter all diesen Bildern stecken atemberaubende Geschichten und nur schwer zu ergründende Geheimnisse. In Mailand begann der penible Leonardo, der auf Hygiene wert legte, sich die Finger mit Rosenwasser wusch und auf die Sauberkeit seiner feinen, oft auch in rosa gehaltenen Kleidung, die er gern trug, wenn er in einer Gruppe junger, gutaussehender Männer in der Öffentlichkeit auftrat, des Nachts Leichen zu sezieren, in den Innereien gehäuteter und aufgeschnittener Menschenleiber zu wühlen, um herauszufinden, wie die Maschine Mensch funktioniert. Um Menschen in der Bewegung zu malen, musste er wissen, wie das Zusammenspiel von Knochen, Muskeln, Sehnen und Haut funktionierte.

Was Leonardo vor allem trieb, war die Leidenschaft, das Geheimnis der Schöpfung Gottes zu entschlüsseln und das Erkannte anzuwenden. Er untersuchte Mineralien und Gesteinsablagerungen, beobachtete Wolkenformationen, die Bewegung des Wassers und den Flug der Vögel und konstruierte ausgehend von seinen Beobachtungen Flugapparate, Fallschirme und Tauchboote. Seine Beobachtungen und Konstruktionen hielt er auf Tausenden von Blättern mit tausenden Bemerkungen fest.

Der vollendet Unvollendete

Nachdem er aus Mailand 1499 fortgehen musste, suchte er einen neuen Mäzen, der ihn finanzierte und arbeiten ließ, in Florenz, in dem übelbeleumdesten Gewaltherrscher dieser Zeit, in Cesare Borgia, in dem Kardinal Giovanni de Medici, in zwei französischen Statthaltern von Mailand, die ihm aber wegstarben oder im Kampf fielen, sodass er die letzten Lebensjahre – nach unterschiedlich langen Aufenthalten in Venedig, Mantua, Florenz, Imola, Rom und Mailand – in Amboise verbrachte, getrieben von dem Versuch, die vielen Zeichnungen und Skizzen, die so viele unterschiedliche Gebiete betrafen, zu systematisieren und zu einem Buch über die Welt zusammenzufassen. Doch weder ihm noch einem anderen sollte das gelingen. So bleibt Leonardos Schaffen ein Fragment, ein Geheimnis, ein vollendet Unvollendetes, ein Bemühen, ein Versprechen. Leonardo hat einmal geschrieben: „Wenn ich glauben werde, das Leben zu lernen, dann werde ich das Sterben lernen.“ Er hat beides vermocht.


Klaus-Rüdiger Mai ist Autor des kürzlich erschienenen Buches „Leonardos Geheimnis: Die Biographie eines Universalgenies“ (Evangelische Verlagsanstalt 2019).

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