Idlib ist vielen Menschen suspekt: abgeschnitten vom Rest Syriens, am Leben erhalten durch den Tropf des Grenzübergangs Bab-al-Hawa. Im Westen wird Idlib oft als „Rebellen“ – oder (schlimmer noch) „Terroristen“-Gebiet bezeichnet. Von den drei Millionen Menschen in dieser Region sind aber die Hälfte Kinder.
Wieder ganz von vorne anfangen
Dasselbe gilt für die elf Camps in Idlib, die wir betreuen: viele Kinder, die kaum etwas anderes in ihrem Leben kennengelernt haben als eine Katastrophe nach der anderen: Revolution – Krieg – Bombardierungen – Vertreibung – Hunger… Und jetzt ein Erdbeben. Das wenige, was die Familien ohnehin nur besaßen (ein Zelt, ein paar Matratzen, ein paar Decken und einen kleinen Ofen) wurden im Erdbeben zerstört, das Zelt brach über ihren Köpfen zusammen, mitten in der Nacht. Decken und Matratzen lagen über Stunden ungeschützt im Schnee und sogen sich mit Schmutzwasser voll.
Als Helferin habe ich das Gefühl, wieder ganz von vorne anfangen und so viel wieder aufbauen zu müssen, wie muss es sich für die Betroffenen anfühlen? Dabei sind die Menschen in unseren Camps noch unter den Glücklichen, die wenigstens nicht schwer verletzt wurden (es war ja nur ein Zelt, das über ihnen zusammenbrach). Unsere Händler in den angrenzenden Städten trifft es noch härter: ich bekam Anrufe von guten Bekannten, die seit Stunden unter den Trümmern lagen, die sich verabschiedeten, wohl wissend, dass es keine Hilfe geben würde – nicht in Idlib, nicht im „Rebellengebiet“.
Der große Profiteur des Erdbebens sind natürlich Assad und sein Regime: am meisten vom Erdbeben betroffen ist eben die Region, die er als „staatsfeindlich“ betrachtet und die internationale Hilfe für den Rest des Landes gibt ihm die Chance, wieder vorsichtige Kontakte in den Westen knüpfen zu können. Umso wichtiger ist es jetzt, an NGOs zu spenden, die unabhängig vom Regime und direkt in der Region tätig sind.
Die Autorin ist Gründerin von Zeltschule e.V.. Der Verein betreibt in Syrien Schulen für Flüchtlinge.
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