Es wirkt wie in einem schlechten Film: Aufgestachelte Demonstranten protestieren gegen vermeintliche Umweltsünden des Nachbarn. Doch jeder weiß, dass dies ein vorgeschobener Grund ist. In Wahrheit geht es darum, den Nachbarn zu verunglimpfen und mit dem Protest sehr konkret und effizient Gewalt gegen ihn auszuüben, denn mit den Demonstrationen wird der einzige und deshalb überlebenswichtige Versorgungsweg blockiert, der dem Nachbar geblieben ist.
Angebliche Demonstrationen
Am Rande Europas spielt sich derzeit eine Tragödie ab, die sich in Heimtücke und Perfidität kaum unterscheidet von Putins Krieg gegen die Ukraine. Der Schauplatz ist nicht weit entfernt: Er liegt im Südkaukasus. Dort führen die Menschen Karabachs derzeit einen Kampf ums Überleben. Der Aggressor ist der Nachbar: Aserbaidschan – oder zumindest jene Aseris, die dem autokratischen Staatspräsidenten Ilham Aliyev Gefolgschaft leisten. Oft scheint es, als möchte der im Bündnis mit dem Bruderstaat Türkei die zwischen beiden Ländern lebenden christlichen Armenier am liebsten aus Vorderasien loswerden, vor allem jene 120.000 Armenier, deren Heimat die armenische Exklave Karabach – auf armenisch Arzach – ist.
Die Blockade begann am 12. Dezember 2022. Mit dem Vorwand, für die Umwelt zu demonstrieren, besetzte eine Gruppe Aserbaidschaner den Latschin-Korridor, eine Schnellstraße, die Karabach mit der Republik Armenien verbindet. Mittlerweile ist dort ein ganzes Zeltdorf aufgebaut, die vermeintlichen Demonstranten werden mit Reisebussen aus Aserbaidschan hin- und zurückgebracht und lassen ihren „Protest" von regimetreuen Staatsmedien auf einem eigens aufgebauten Podest filmen. Sie behaupten, Armenier würden in Karabach illegalen Bergbau betreiben und Waffen sowie Bodenschätze, auf die Aserbaidschan Anspruch erhebt, über den Latschin-Korridor ins Ausland schmuggeln, wie es in den Medien heißt.
Blockade hat zu humanitärer Katastrophe geführt
Internationale Experten sind jedoch überzeugt: Es sind keine Umweltaktivisten, sondern Anhänger Aliyevs, die „demonstrieren“. Dutzende in zivil gekleidete „Protestler“ wurden bereits als Militärangehörige und Regierungsmitarbeiter identifiziert. Die Regierung Arzachs bezeichnet sie als „staatliche Agenten Aserbaidschans". Viele der vermeintlichen Demonstranten zeigen zudem offen den Handgruß der rechtsextremen türkischen Bewegung Graue Wölfe, die in vielen Ländern als Terrororganisation gilt und verboten ist. Die Sperre hat inzwischen zu einer humanitären Katastrophe geführt: Die Geschäfte in Karabach sind nahezu leer. Seit dem 20. Januar gibt die Regierung Lebensmittelmarken aus, um die Reserven gerecht unter der Bevölkerung aufzuteilen. Und nicht nur das Essen geht aus, auch Medikamente sind fast nicht aufzutreiben – chronisch kranke Menschen können nicht angemessen behandelt werden.
„Die De-facto-Blockade des Latschin-Korridors ist ein Verstoß gegen das im November 2020 von Armenien, Aserbaidschan und Russland unterzeichnete dreiseitige Waffenstillstandsabkommen“, sagt der armenische Journalist Marut Vanyan aus Stepanakert, der Hauptstadt Arzachs, dem „Osservatore Romano“. „Jeden Tag gelangten Hunderte von Tonnen Fracht aus Armenien über den Korridor, eine etwa 30 Kilometer lange Bergstraße, die die armenische Stadt Goris mit Stepanakert verbindet, nach Karabach. Doch mit der Blockade kam all dies zum Stillstand. Obst- und Gemüseläden haben geschlossen, und es herrscht ein gravierender Mangel an Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern“, sagt Vanyan, dem zufolge die Apotheken jedem Kunden Aspirin nur in kleinen Mengen verkaufen, damit jeder die Chance hat, etwas zu bekommen.
Armeniens Schutzmacht Russland rührt sich nicht
Der armenische Journalist räumt ein, dass einige Lebensmittel und Medikamente über Konvois des Internationalen Roten Kreuzes und der russischen Friedenstruppen, die im Rahmen des Abkommens von 2020 die Lage im Latschin-Korridor überwachen, nach Karabach gelangen. „Aber das ist nur eine begrenzte Menge im Vergleich zum Bedarf der Einwohner. In den Supermärkten fehlen die einfachsten Produkte, vom Zucker bis zum Mehl, es gibt kein Waschpulver, kurzum alles, was man im Alltag braucht. Und Kindergärten wurden wegen des Mangels an Lebensmitteln geschlossen.“ Nach Angaben des Journalisten gab es aufgrund der Schließung des Latschin-Korridors sogar „Fälle von Verstorbenen, deren Leichen nicht von Eriwan nach Berg-Karabach überführt werden konnten, um sie in der Nähe ihrer Angehörigen zu bestatten“.
Tatsächlich tut Russland, die vermeintliche Schutzmacht Armeniens, viel zu wenig, um die drohende Katastrophe in Karabach abzuwenden. Geopolitische Erwägungen sind Moskau scheinbar wichtiger als das Wohlbefinden der Armenier. Zu Sowjetzeiten hielt es Armenien und Aserbaidschan mit eiserner Hand zusammen. Seitdem beide Länder unabhängig sind, gilt im Kreml die Devise, es sich mit beiden nicht zu verscherzen. Waffen etwa liefert Moskau an Baku und an Jerewan. Wenn sich beide Länder damit bekämpfen, hält sich Moskau raus.
Nur wenn es gar nicht anders geht, wird eingegriffen, eben jetzt mit der knapp 2.000 Mann starken, nach dem letzten Krieg um Karabach 2020 stationierten sogenannten Friedenstruppe – der die Sicherung des Friedens aber offenbar ziemlich egal ist. Der Grund dürfte auch darin liegen, dass Russland sich neben seinem Krieg in der Ukraine kaum mit anderen außenpolitischen Themen befassen kann.
EU unterhält enge Partnerschaft mit Aserbaidschan
Im Konflikt mit dem Nachbarn befindet sich Aserbaidschan allerdings in einer deutlich komfortableren Ausgangslage. Es verfügt über Öl und Gas – auf das nicht zuletzt die EU ein Auge geworfen hat. Überdies besitzt Baku mit Ankara eine mächtige Regionalmacht als Verbündete. Ebenso wie Aserbaischan möchte die Türkei das eingezwängte Armenien am liebsten mundtot machen – wohl auch aus Sorge, der Völkermord an den Armeniern durch die Osmanen könnte irgendwann einmal wieder Streitthema werden. Einzig mit Iran hat Aserbaidschan ein spannungsgeladenes Verhältnis, da Teheran mit separatistischen Tendenzen der aserischen Bevölkerung in Nordwestiran konfrontiert ist.
Armenien indes, ein kleines Land mit drei Millionen Einwohnern, ist weitgehend auf sich allein gestellt. Man erinnere sich: Als Aserbaidschan im September vergangenen Jahres armenisches Kernland beschoss, scherte dies außerhalb Armeniens kaum jemand. Einzig die damalige Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, bekannte Farbe, fuhr nach Jerewan und nannte den Aggressor beim Namen: Aserbaidschan. Deutschland ging wie die EU auf Äquidistanz, um die Beziehung zum rohstoffreichen Aserbaidschan nicht zu belasten. Schon jetzt unterhält die EU eine enge Partnerschaft mit Aserbaidschan, von dem sie über die Trans-Adria-Pipeline kaspisches Erdgas bezieht.
Der älteste christliche Staat allein auf weiter Flur
Tatsächlich hat das christliche Armenien „außer“ einer uralten Kultur „nicht viel zu bieten“. Es gibt keine nennenswerten Rohstoffe, keinen großen Absatzmarkt, keinen Zugang zum Meer. Wer aber jenseits geopolitscher und wirtschaftlicher Interessen denkt, kommt nicht umhin, die Bedeutung der armenischen Existenz für die Entwicklung Vorderasiens und ihre Potenziale für die Zukunft der Region wertzuschätzen – als kulturelle Impulsgeberin, als Brücke zwischen den Kulturen Asiens und Europas und als Identitätsstifterin, die weit mehr als den drei Millionen Menschen in der demokratischen Republik Armenien Orientierung gibt.
Rund neun Millionen Armenier leben in der Diaspora. Sie bildet in vielerlei Hinsicht Armeniens Stimme in der Welt. Auch Aserbaidschan war christlichen Armeniern einmal Heimat. Seit dem Konflikt um Karabach gibt es armenisch-apostolische Christen allerdings nur noch in der Republik Arzach, da die Armenier aus Aserbaidschan vertrieben wurden. So wird kein armenisch-apostolisches Kirchengebäude mehr in Aserbaidschan genutzt. Viele sind abgerissen worden.
Zweifellos gibt es auch auf armenischer Seite ausgeprägten Nationalismus, der friedlichen Lösungen entgegensteht. Doch die jüngsten Entwicklungen müssten globales Mitgefühl mit diesem kleinen Land wecken. Ein Zeichen der Hoffnung: Die EU hat beschlossen, eine zivile Mission nach Armenien zu entsenden, die in der Nähe der Grenze zu Aserbaidschan (nicht in Karabach) stationiert werden soll. Auch Deutschland will sich mit 15 Polizeibeamten beteiligen.
Außerdem hat Armenien am vergangenen Donnerstag ein Friedensangebot an Aserbaidschan übermittelt: Bei einem im Fernsehen übertragenen Regierungstreffen betonte Ministerpräsident Nikol Paschinjan, es sei ein Entwurf für ein „umfassendes Abkommen“. Zudem seien Vorschläge für die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn unterbreitet worden. Das Dokument müsse für Aserbaidschan annehmbar sein und seine Unterzeichnung einen dauerhaften Frieden herbeiführen, hob Paschinjan hervor.
Bisher haben alle Bemühungen Baku nicht davon abgehalten, den Konflikt zu schüren und den Weg nach Karabach zu blockieren. Ob der neuerliche Vorstoß den schlechten Film im Südkaukasus beendet, ist deshalb fraglich.
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